Luftwaffengrau
Bewertet mit 4 Sternen
Der junge Schweizer Friedrich, ein stiller, einsamer Mann, kommt 1942 nach Berlin. Eigentlich soll er die Welt entdecken, seinem Vater nach Istanbul folgen, den Krieg ausblenden. Doch aufgrund eines Gerüchts will er unbedingt nach Berlin: Im Scheunenviertel sollen Juden mit Möbelwagen weggebracht werden. Das scheint ihm so ungeheuerlich, dass er es mit eigenen Augen sehen will. Möbelwagen findet er zunächst keine, aber er lernt bald eine Frau kennen, die ihn unheimlich fasziniert. Scheint sie doch das Gegenteil von ihm: Offen, frech, lebendig und irgendwie mysteriös. Und auch wenn ihm Berlin nichts bietet; von ihr kommt er nicht los. Auch als sich herausstellt, dass sie es mit der Wahrheit nicht allzu genau nimmt...
Von Anfang an hat mich Würgers Sprache fasziniert. In sehr kurzen, präzisen Sätzen schildert er Friedrichs Leben. Umreißt nüchtern und ohne jede blumige Ausschmückung Friedrichs Kindheit und Jugend bevor er nach Berlin aufbricht. Und gerade diese Nüchternheit hat mich sehr getroffen. Wie ein Schlag in den Magen waren die Sätze teilweise. Unerwartet und deswegen heftig.
„Wenn Mutter getrunken hatte, hob sie manchmal die Faust, aber sie blieb sich treu in ihrem Bemühen, mich nicht zu berühren.“
Seite 26
Genauso in den Kapitelanfängen, in denen Würger bestimmte Ereignisse des Jahres 1942 aufzählt. Man weiß ja, was alles Schreckliches passiert ist während der NS-Herrschaft. Aber es in dieser Form zu lesen, während Friedrich mit seiner Liebsten quasi gleichzeitig illegal importierten Käse futtert und Sekt schlürft ist besonders heftig.
„August 1942 […] Achtes Gebot der zehn Gebote für jeden Nationalsozialisten des Dr. Joseph Goebbels: „Sei kein Radauantisemit, aber hüte dich vor dem Berliner Tagblatt.“ […] Der Leiter des Waisenhauses Warschauer Ghetto, Janusz Korczak, geht freiwillig zusammen mit 200 Kindern ins Vernichtungslager Treblinka und lässt sich ermorden; Korczak trägt zwei der kleinsten Kinder auf dem Arm. Heinrich Himmler bestimmt „Luftwaffengrau“ als neue Farbe für deutsche Feuerwehrautos.“
Seite 167
Neben der gelungenen Sprache fand ich den Konflikt, den die Geschichte aufwirft sehr interessant. Kann man sich als deutscher Jude, trotz all des Unrechts, den Deutschen zugehöriger fühlen? Wann wird man durch Nichtstun mitschuldig? Steht Moral über Liebe? Eher zwischen den Zeilen stellt Würger diese Fragen, regt zum nachdenken an und schafft es dabei trotz des schweren Themas zu unterhalten.
Einzig kritisieren kann ich, dass mich die Geschichte um Friedrich und Kristin sprachlich nicht so sehr gepackt hat, wie der Beginn des Romans. Die Figur des Von Appen fand ich zudem recht seltsam und seine Funktion hat sich mir nicht in Gänze erschlossen. Ansonsten ist „Stella“ ein berührendes, nachdenkliches Buch, in dem Würger gekonnt Fakten und Fiktion verwebt und anschaulich eine Seite des Naziregimes beleuchtet, die eher unbekannt ist. Sehr lesenswert.
Kommentare
Naibenak kommentierte am 30. Januar 2019 um 08:36
Tolle Rezi und die Zitate haben es wirklich in sich! Genau mein Ding :) Freu mich schon auf des Buch demnächst :)