Rezension

Kein Ferrante-Fieber ausgebrochen

Meine geniale Freundin - Elena Ferrante

Meine geniale Freundin
von Elena Ferrante

Inhalt: Die Geschichte beginnt aus der Ich-Perspektive Elenas, die einen unerwarteten Anruf von Lilas Sohn Rino erhält. Lila sei spurlos verschwunden. Elena ist nicht wirklich über diesen Umstand überrascht, da Lila schon immer den Plan hatte "spurlos zu verschwinden". Und Elena behält Recht: Kein einziges Kleidungsstück ist in Lilas Schränken zu finden, zurück bleiben nur leere Kleiderbügel. Was jedoch noch mehr verblüfft ist, dass Lila sich auch aus allen Familienfotos herausgeschnitten hat. Elenas Ansicht nach übertreibt Lila mal wieder maßlos. Im Folgenden schreibt sie ihre gemeinsame Geschichte nieder, die von gemeinsamen Kindheitstagen bis zu ihren Jugendjahren in Neapel erzählt. Elena Greco, Tochter des Pförtners und Lila Cerullo, Tochter des Schusters, schließen in den 50er Jahren Freundschaft. Die zwei Mädchen sind grundverschieden, denn während Elena ruhig und besonnen ist, lässt sich Lila nichts gefallen und legt sich nicht selten mit den Jungen in der Nachbarschaft an. Doch auch Lilas unübertreffliche Leistungen stechen in der Schule hervor, die Elena zu nächtelangen Lernen veranlassen. Bald schon halten Lilas Eltern sie von ihrem schulischen Werdegang ab, was sie jedoch nicht daran hindert unermüdlich Bücher aus der Bibliothek auszuleihen und sich zu einer eifrigen Autodidaktin zu entwickeln. Sie lernen beide Latein, Griechisch, Mathematik oder Englisch, doch Lila weiß immer mehr als Elena, die sich bis zum Abitur kämpft, während Lila in der Schusterei ihres Vaters arbeitet. Sie wachsen heran, gehen aus, haben Verehrer, verlieben sich, werden nur allzu oft Zeuginnen von Gewalt zwischen den Familien – bis sich die 16-jährige Lila schließlich mit Stefano verlobt, der sie mit Geschenken überhäuft, ihr und ihrer Familie eine bessere Zukunft in Aussicht stellt und die Mädchen vor Entscheidungen gestellt werden, die ihr weiteres Leben bestimmen.

Meinung: Der Schreibstil gefiel mir recht gut, der authentisch das Leben im Rione (Viertel) vermittelt: schmutzig, staubig, voll aufgeladener Aggressivität. Kleine Pöbeleien und Sticheleien enden meist in wüsten Beschimpfungen und Schlägereien zwischen den heranwachsenden jugendlichen Männern, die um die Ehre ihrer Schwestern oder die Angebetete kämpfen. Auch in den Familien selbst kommt es zu Handgreiflichkeiten, Beschimpfungen und als Lila von ihrem Vater aus dem Fenster geworfen wird, war ich sprachlos. Es ist kein einfaches Leben und es gibt kaum Hoffnung aus dem Viertel herauszukommen. Bildung oder eine Verbindung mit einem gut betuchten Mann scheinen der einzige Ausweg zu sein.
Am liebsten mochte ich den ersten Abschnitt des Romans. Die Welt aus den Augen der Kinder wird unverblümt beschrieben, sie kennen kein Gestern oder Morgen, sie leben im Hier und Jetzt, träumen von Reichtum und wollen die Welt entdecken. Was mich dann doch sehr störte, war die ständige Wiederholung des Wettstreits zwischen den Mädchen. Natürlich gibt es solchen immer zwischen Kindern und auch Freunden. Doch das ewige Bessersein und alles als Erste erleben zu müssen, nahm den meisten Platz ein und wird sehr langatmig beschrieben. Elena hat kein Selbstbewusstsein, vergleicht sich fortwährend mit Lila und macht sich auf diese Weise selbst zum Schatten ihrer Freundin. Sie fühlt sich kurzzeitig hübscher als sie, da Lila erst viel später weibliche Rundungen bekommt und ihre kindliche Statur verliert. Elena bekommt eine Brille und Akne, Lila nicht. Aufenthalte am Meer und in der Sonne können ihre Akne kurzzeitig heilen, doch Elena empfindet, dass sich Lila nicht für sie freut. Die ersten Verehrer kündigen sich an, die ihr Auge vornehmlich auf Lila geworfen haben. Elena verspürt den Drang zuerst einen festen Freund zu finden, damit sie Lila nicht auch noch hier besticht. Ich fühlte mich wie in einer Endlosschleife aus Vergleichen und suchte den Sinn und die Spannung der Geschichte über rund 400 Seiten.
Durch die Ich-Perspektive Elenas erfährt der Leser leider nichts über die wahren Gedankengänge Lilas. Sie bleibt eine Figur, die wir aus Elenas Augen betrachten und zu der sich immer mehr eine Distanz zu entwickeln scheint. Die wechselseitige Abhängigkeit der Freundinnen aus Kindertagen, die sich gegenseitig zu Höchstleistungen angestachelt und beflügelt haben, scheint mit ihrem unterschiedlichen Leben und schließlich Lilas Verlobung zu schwinden. Es wird ersichtlich, dass die "geniale Freundin" auf beide Mädchen zutrifft, da sie sich gegenseitig in ihren Bestrebungen brauchten. Elena spürt schließlich, dass das Leben noch mehr für sie bereit halten muss als Bücher und die damit verbundene Einsamkeit. Sie bereut, dass sie ihre Liebe zu Nino immer wieder im Keim erstickt hat. Und auch Lila scheint mit ihrer Verbindung nicht mehr allzu glücklich. Mehrmals spricht sie von der beängstigenden Auflösung, die bereits zu Beginn der Geschichte erwähnt wird. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie lieber sich und ihr Wesensart verliert, nur um den Aufstieg in ein besseres Leben zu schaffen. Mit Lilas Hochzeit endet der erste Teil der Geschichte. Zurück bleibt zwar die Frage, wie sich das weitere Leben der Mädchen gestalten wird, aber auch der mir nicht ganz nachvollziehende Ferrante-Hype.