Rezension

Lyrische Kakophonie

Singe ich, tanzen die Berge -

Singe ich, tanzen die Berge
von Irene Solà

Bewertet mit 4 Sternen

Die Wolken lieben es, zu hageln, Pilze erklären einem die Ewigkeit, der Amtmann kann in die Zukunft sehen.

In ihrem Erstling eröffnet Solá unerwartete Perspektiven; Flora, Fauna, Berge, Menschen haben gleichberechtigte Stimmen – die Autorin verweigert die anthropozentrische Sicht und erschafft ein mystisches Seinsgeflecht. Gegenwart und Vergangenheit oszillieren und durchdringen sich, die Grenze zwischen Leben und Tod, zwischen Stein und Sein ist durchlässig.

Die Fäden dieses Geflechts ergeben die Geschichte eines Pyrenäendorfes, geprägt von Naturgewalten und der menschlichen Gewalt gegen Mensch, Tier und Landschaft. „Nur feige Tiere töten, was sie nicht essen,“ lässt Solá einen (der längst ausgerotteten) Bären sagen. Zeugnisse des Bürgerkriegs, der Fluchtrouten der Republikaner sind in der Erde der Berge begraben. "Granaten und Munition und Bruchstücke von Gewehren", die "... die traurigen, verzweifelten Menschen weggeworfen hatten..." Die Dorfkinder graben sie kistenweise aus.

Solá erzählt nicht linear von ihren menschlichen Figuren, sondern oft beiläufig, etwa in Nebensätzen, versteckt in Kapiteln mit ganz anderem Thema und in großen Zeitsprüngen. Dennoch entwickelt diese erratische Story einen Sog; ihre (manchmal märchenhaften) Figuren sind vielschichtig und haben Tiefe.

Das Feuilleton hat den Roman eine Symphonie genannt – für mich liest er sich eher als lyrische Kakophonie aus schrillen und sanften Tonlagen. Eine großartige Sprache, die mit dem Bären brüllt und mit dem Gras flüstert, die mit rhythmischen Wiederholungen spielt, die etwas wagt. Nicht immer ist das Wagnis geglückt, empfand ich die Sprachbilder als gelungen: Gelassen wie ein Kaninchen. - Heiter wie Brot. - Ein Schatz wie ein Geheimnis.  Aber schon im nächsten Satz erschafft Solá starke Bilder mit wenigen Worten oder zeichnet verblüffend komplexe Figuren: „Ihr Gesicht ist wie ein Baum, mit Augen wie zwei Marienkäfer, und ihr Mund, stumm, und der Frieden, den sie atmet, bis sie unvermittelt etwas Spitzes sagt, als schwelte die ganze Zeit ein Feuer in ihr, ohne dass ich es bemerkt hätte.“ 

Am Ende klingt der schräge Chor in einem melancholischen Happy End aus – und wie bei allem in diesem besonderen Text weiß man nicht, soll man das gut finden oder schlecht, ist es schön, ist es traurig… es ist alles in einem. Die Lektüre hat mich verwirrt und verblüfft, gefesselt und fasziniert. Ich habe gelacht, gegrübelt, gerätselt, mich gewundert. Zurückgeblättert und nochmal gelesen. Und mich gefreut an diesem mutigen Stück Sprachkunst.

Fazit: Ein außergewöhnliches Leseerlebnis. Trotz kleiner Schwächen: Empfehlung!