Madison Square, New York
Bewertet mit 4 Sternen
Das Bild einer Neuen Zeit - irgendwo auf der Welt und zwar immer am Madison Square:
"Es ist mir ein Anliegen gewesen, bei Eurer Erziehung Ehrlichkeit walten zu lassen", sagt Großvater Bingham bei der allsonntäglichen Abendessenrunde. Es folgt das Gespräch, auf das die drei Enkel seit Monaten warteten. Eine 'nicht alltägliche' Runde von Menschen in einer Welt, in der viel in Bewegung ist. Der Großvater der Firma 'Bingham Brothers' spricht über das Erbe, was er hinterlassen wird. Der eine Enkel ist mit seinem Gatten da, die Enkelin mit ihrer Ehefrau, nur der Älteste, David, ist noch nicht verheiratet. Doch für ihn ist eine Bewerbung gekommen, da möchte einer sein Gatte werden, doch dieser ist ziemlich alt. Es geht um arrangierte Ehen, es geht um die Liebe. Es geht um das Bild einer Neuen Zeit. David verliebt sich. Jedoch nicht standesgemäß...
Das Buch ist unterteilt in drei Abschnitte. 1893 – 1993 – 2093, drei Jahrhunderte, drei Leben. 1893 – Washington Square. 1993 – Lipo – wao – nahele. 2093 – Zone Acht.
Während also der erste Teil, 1893, in der Vergangenheit spielt, kann sich die Leserschaft vorgaukeln, dies ist vergangen. Das Bild einer Zeit, die zerfloss und so nicht (mehr) existierte. Doch dann kommt 1993, das war ja eben… und 2093 – die Zukunft – ist ziemlich trübe. Ist das jetzt unter dem Einfluss von ‚fridays for future‘ oder unter Corona entstanden? Beidem?
Teil 1 - im 19. Jahrhundert, im „freien New York“, jede:r kann lieben und heiraten, wen er oder sie will. Dass dies doch nicht so einfach geht, zeigt das Beispiel des jungen Mannes aus einer wichtigen Familie. Er verliebt sich nicht standesgemäß in einen unvermögenden Musiklehrer.
Eine sehr sanfte Liebesgeschichte.
Teil 2 - im 20. Jahrhundert, ein Paar, Mann – Mann, die Zeit geprägt von HIV - AIDS. Die zwei Männer, einer jung, der andere 30 Jahre älter, der Ältere vermögend, der Jüngere abhängig von ihm. Es herrscht nur eine oberflächliche Offenheit zwischen den beiden.
Teil 3 - im 21. Jahrhundert, ein Zeitalter, eingeengt durch Pandemien, Rationierungen von Grundgütern und geprägt durch extreme Umwelteinflüsse. Die junge Frau, verheiratet in einer arrangierten Ehe, leidet in der Ehe, kämpft sich durch Krankheit und vermisst ihren Großvater.
Der Schreibstil ist bedächtig, mit vielen Schachtelsätzen. Aber mit Farbe und Gerüche, dass man glaubt, das Essen, was serviert wird, selbst zu kosten… Seite 58/59, David Bingham trifft vorsätzlich auf Edward Bishop, den Musiklehrer. Suche nach einem Zeichenblock. Es liest sich so locker, als stünde man daneben und beobachtet wie Edward sucht. Und David, der eher Edward beim Suchen zuschaut, so wie wir – die Leserschaft – es auch tut. Das Geschriebene wirkt zu keiner Zeit gekünstelt, sondern tatsächlich, wie eine ablaufende Aktion, die David wie die Leserschaft beobachtet. Dabei geht es um eine erotische Situation, David, der in Edward verliebt ist und Kontakt zu ihm sucht...
‚Zum Paradies‘ (im englischen Original ‚To paradise‘) der hoch anerkannten jungen Autorin Hanya Yanagihara ist keine leichte Lektüre. Es ist ein schwer gewichtiges Buch (nicht nur 895 Seiten aus sehr dünnem Papier – Vorsicht beim Umblättern, es könnte leicht reißen), es ist vor allem inhaltlich ein sehr gewichtiges Buch. Schon das auf dem Umschlagbild abgedruckte Bild des Gesichtes eines jungen Mannes, nachdenklich, mit dunkler Hautfarbe und Gesichtszügen, die auf den Einfluss vieler Kulturen hinweisen, lockt in erster Linie eine Leserschaft an, die weiß sich mit Schwergewichten zu beschäftigen. Man muss sich darauf einlassen. Es ist kein sogenannter ‚page turner‘, es fesselt nicht und lässt einem oft ratlos zurück, nachdenklich.
Hanya Yanagihara wuchs in Hawaii auf (Vater – Hawaiianer mit japanischen Wurzeln, die Mutter – Südkoreanerin, die ebenfalls auf Hawaii aufwuchs). Schon allein der Kontext im Pazifik auf einer Inselgruppe aufzuwachsen, die geprägt ist von vielen Kulturen und einer intensiven Geschichte, ein Bundesstaat der Vereinten Staaten von Amerika, das nicht allen Bewohnern der USA bekannt sein dürfte, fließt bestimmt in ihr Schreiben ein. Die Familie lebte auch in Texas und Maryland (wiederum zwei völlig unterschiedliche Bundesstaaten). Yanagihara hat sich mit zwei Büchern (The People in the trees, A little life – in beiden Büchern geht es um Missbrauch) in den Olymp der anerkannten Schriftsteller:innen katapultiert.
'Zum Paradies', Hanya Yanagihara, Claasen und Ulstein Verlage, übersetzt von Stephan Kleiner (ein sehr erfahrener Übersetzer)