Rezension

Realistische Dystopie

Unsre verschwundenen Herzen
von Celeste Ng

„Man sagte etwas und jemandem gefiel es nicht. Man tat etwas, und jemandem gefiel es nicht, aber vielleicht tat man auch nichts, und jemandem gefiel das auch nicht.“

 

Noah, genannt Bird, ist 12 Jahre alt. Mit seinem Vater lebt er auf dem Campus der Harvard University. Das Leben in der amerikanischen Gesellschaft, in der Bird aufwächst, ist nach Jahren der wirtschaftlichen und sozialen Instabilität, vor allem durch ein Gesetz geprägt: den „Preserving American Culture and Traditions Act“, kurz PACT. PACT regelt das Verbot „unamerikanischer“ Bücher, das Sperren „unamerikanischer“ Internetseiten, die Denunziation „unamerikanischen“ Verhaltens und den Entzug von Kindern aus „unpatriotischen“ Elternhäusern. Bird ist sich zunehmend sicher, dass PACT der Grund für das Spurlose Verschwinden seiner Mutter vor drei Jahren ist.

 

Celeste Ng gehört zu den Autor*innen, zu deren neuen Bücher ich blind greife: und sie hat mich nicht enttäuscht! Dabei war eine Dystopie wohl nie ihr ursprünglicher Plan für ihren neuen Roman – bis 2016.

„Unsere verschwundenen Herzen“ zeichnet das Bild einer düstern, konstant misstrauischen Gesellschaft, die sich komplett in der Hand von Polizei und Nachbarschaftsmiliz befindet. Jede Kritik an PACT ist per se „unpatriotisch“ und wird verfolgt, mit jedem Akt der Nonkonformität riskieren Eltern, ihre Kinder zu verlieren. Und so weit dies von der heutigen Situation entfernt scheint, nutzt Ng doch viele Variationen auf aktuelle politische Vorgänge in den USA: Bücher verschwinden in vielen Staaten der USA reihenweise aus Schulbibliotheken. Lehrplaninhalte wie die Sklaverei, die kein allzu gutes Licht auf die USA werfen, stehen in vielen republikanisch geführten Staaten auf dem Prüfstand. Und Texas ist in Sachen Denunziation weit vorangeprescht, in dem es alle Bürger*innen auffordert, jeden Verdacht einer geplanten oder erfolgten Abtreibung den Behörden zu melden.

Und auch ein Sündenbock ist, wie in allen politischen Krisen, in Ngs dystopischen Amerika schnell gefunden: China, und stellvertretend alle asiatisch aussehenden amerikanischen Bürger*innen. An dieser Stelle sei an die Myriade von Trump-Reden erinnert.

Diese engen Anknüpfungspunkte an die heutige politische Situation machen Ngs neuen Roman wahnsinnig realistisch und dadurch umso beängstigender. Eine ähnliche Gesellschaft lässt sich hoffentlich noch abwenden, erscheint aber nicht unmöglich.

Das hindert Ng jedoch nicht daran, ohne Rücksicht auf Verluste auf dem Boden dieser Dystopie eine wahnsinnig spannende Geschichte zu erzählen. Dieses Buch hat mich ab dem ersten Kapitel eingesogen und erst 2 Tage später auf der letzten Seite wieder ausgespuckt. Und auch ihr nächster Roman wird definitiv wieder auf der Must-read-Listen landen.