Rezension

Romeo und Julia reloaded? Weit gefehlt.

Wenn du mich heute wieder fragen würdest - Mary Beth Keane

Wenn du mich heute wieder fragen würdest
von Mary Beth Keane

Bewertet mit 5 Sternen

„Liebe ist nur ein Teil der ganzen Geschichte.“ (S. 354 eBook)

Kate liebt Peter. Peter liebt Kate. Die beiden Nachbarskinder wachsen gemeinsam im New Yorker Vorort Gillam auf und sind seit frühester Kindheit unzertrennlich. Alles könnte einfach und schön sein, wären da nicht ihre Familien, die diese Verbindung nicht gerade wohlwollend beobachten. Statt entzückender Vorort-Nachbarschaft herrscht zwischen den Gleesons und den Stanhopes Misstrauen und Ablehnung, die vor allem von Peters Mutter Anne ausgeht. Ein tragischer Vorfall wirft schließlich die Mitglieder beider Familien völlig aus der Bahn und stellt die Liebe zwischen Kate und Peter auf eine harte Probe. 

Das alles klingt nach Kitsch, nach zu viel Drama und einem aufgesetzten Happy End. Romeo und Julia reloaded sozusagen. Doch nichts davon ist zutreffend. Dieser Roman bietet so viel mehr als nur eine oberflächliche Liebesgeschichte mit einer großen Prise Familientragödie. Was ihn auszeichnet ist nicht die Handlung an sich, denn solche Geschichten begegnen uns an jeder Bücherecke. Es ist die Art und Weise, wie Mary Beth Keane sich den Themen Liebe, Schuld und Vergebung annähert und sie zu einem unglaublich vielschichtigen Familienroman verarbeitet – einem Roman, der dort beginnt, wo andere in der Regel aufhören. Ja, es geht um Liebe. Ja, Kate und Peter heiraten, bekommen Kinder und kaufen ein Haus und nein, damit habe ich nicht zu viel verraten. Denn genau ab diesem Punkt wird es erst richtig interessant.

Schon früh wird klar, dass mit Anne etwas nicht stimmt. Völlig unberechenbar ist sie in einem Moment fürsorglich und liebevoll und im nächsten kalt und abweisend. Peter leidet offensichtlich unter den dysfunktionalen Familienverhältnissen, doch sein Vater ist die meiste Zeit physisch oder psychisch abwesend und in der Nachbarschaft gehört das Einmischen in fremde Angelegenheiten nicht zum guten Ton. Die Tragödie scheint aufhaltbar und ist dennoch unausweichlich.

Zugegeben, anfangs war ich skeptisch und wurde nicht recht warm mit dem beschreibenden, eher sachlichen Stil. Doch je weiter die Geschichte voranschritt, desto mehr faszinierte mich die Erzählweise der Autorin. Still und leise kam der Punkt, an dem ich mich mitten in Gillam wiederfand. Mit offenem Mund stand ich dort und verfolgte gebannt das Hin und Her zwischen den Protagonisten, die gegenseitigen Annäherungen und Zurückweisungen.

Mary Beth Keane beobachtet genau und zeichnet mit klaren Sätzen jede noch so kleine Regung und Geste ihrer Figuren nach. Gefühle und Gedanken werden nicht direkt thematisiert, sondern entstehen im Handeln zwischen den Zeilen. Ruhig und unaufdringlich beschreibt sie ihre Charaktere und deren Entwicklungen über die Jahrzehnte und spielt dabei geschickt mit den Erwartungen und (Vor-)Urteilen der Leser:innen, indem sie bereits Erzähltes aus weiteren Perspektiven betrachtet und damit auf den Kopf stellt. Beeindruckend fand ich in diesem Zusammenhang ihren Umgang mit den Themen psychische Erkrankung und Alkoholsucht.  Zu keinem Zeitpunkt verurteilt oder glorifiziert sie bestimmte Figuren oder steckt sie in moralische Schubladen wie gut/böse, Opfer/Täter oder schuldig/nicht schuldig, sondern stellt eine Vielzahl an Aspekten zur Diskussion. Kann ein Mensch ein schweres Verbrechen begehen und trotzdem Opfer sein? Fehlen bei psychischen Erkrankungen frühe Hilfs- und Auffangsysteme? Können sich Menschen verändern und resozialisiert werden? Wie gelingt Annäherung und Vergebung nach so einer Tragödie?

Mich hat der Roman mit einer Tiefe und Themenvielfalt beeindruckt, die ich ihm anhand des leider etwas oberflächlichen Klappentextes nicht zugetraut habe. Kate und Peter beim „Erwachsenwerden“ zuzusehen und die beiden mit ihren Familien durch die Höhen und Tiefen des Lebens zu begleiten hat mir ein aufwühlendes und erstaunlich fesselndes Leseerlebnis beschert. Für mich war dieser Roman ein Lesehighlight, das ich uneingeschränkt weiterempfehlen kann. Der Vergleich mit Romeo und Julia hinkt meiner Meinung nach aber gewaltig, da die Liebe eben „nur ein Teil der ganzen Geschichte“ ist.

Kommentare

Naibenak kommentierte am 03. Mai 2021 um 16:37

Klingt ja super spannend! Tolle Rezi :-) Ich dachte eigentlich auch eher an eine Schmonzette oder so bei dem Titel ;-))) Gut, dass du mich eines besseren belehrst! Werde ich mir auf die Wuli packen :-)

LySch kommentierte am 04. Mai 2021 um 09:53

Der Eisele-Verlag hat wirklich ein gutes Händchen für tiefgründige Romane, finde ich :)