Rezension

Ruhig erzählter, warmherziger Roman über die Liebe zur Sprache, über die Rolle der Frau zur Jahrhundertwende und das enge Band von Familie und Freundschaft.

Die Sammlerin der verlorenen Wörter -

Die Sammlerin der verlorenen Wörter
von Pip Williams

Bewertet mit 4 Sternen

Esme wächst bei ihrem Vater Harry auf, der zur Jahrhundertwende als Lexikograph am ersten Oxford English Dictionary arbeitet. Das Skriptorium und das Haus seines Arbeitgebers Dr. James Murray wird für Esme zu einem zweiten Zuhause. Schon als kleines Mädchen liest sie die Belegzettel mit Erklärungen für die Worte, die in dem Wörterbuch aufgenommen werden sollen. So mancher Zettel mit aussortierten landet dabei heimlich in ihrer Koffertruhe, die sie bei dem acht Jahre älteren Dienstmädchen Lizzie der Murrays aufbewahrt. Dort erkennt sie auch die Unterschiede zwischen Arm und Reich und die Stellung der Menschen in der Gesellschaft.
Als Esme älter wird, geht sie mit Lizzie regelmäßig in die Markthalle in Oxford und lernt dort nicht nur neue Worte kennen, für die sie ihre eigenen Belegzettel mit treffenden Zitaten für ihr eigenes "Lexikon der verlorenen Wörter" verfasst, sondern auch Frauen wie die Schauspielerin Tilda, die als Suffragette für das Wahlrecht der Frauen kämpft.
Der Roman ist eine fiktive Geschichte über das Leben von Esme Nicoll, die 1892 geboren ist, als Tochter eines Lexikographen aufwächst und selbst eine Liebe zu Worten entwickelt. Ihre Lebensgeschichte wird eng mit der Entstehungsgeschichte des Oxford English Dictionary verwoben. Das Buch gibt damit interessante Einblicke in die über 50-jährige Arbeit an DEM englischen Wörterbuch, das fortlaufend weiterentwickelt wird. Fast jeder deutsche Schüler wird den Nachfolger des historischen Wörterbuch, das Oxford Advanced Learner's Dictionary, aus dem Englischunterricht kennen.
Esme ist ein liebenswerter Charakter, die durch ihre Aufenthalte im Skriptorium, das von Männern dominiert ist und durch ihre freundschaftliche Beziehung zu dem Dienstmädchen Lizzie die Unterschiede zwischen den Geschlechtern sowie den Bürgerlichen und Arbeitern kennenlernt. Sie begreift die Ungerechtigkeiten und unterstützt die Suffragettenbewegung, auch wenn sie deren Methoden nicht immer gutheißt. Sie selbst bleibt eher passiv und muss sich persönlich mit Verlusten auseinandersetzen.
Während mir der Beginn mit Esmes Kindheit und ihrem Sammeln der Worte, die es nicht geschafft haben, in das OED aufgenommen zu werden, da sie zu vulgär waren oder nur im Sprachgebrauch der einfachen Menschen vorkamen, gut gefallen hat, empfand ich den Roman im Mittelteil weniger fesselnd. Die Handlung wurde etwas zäh, da sie sowohl in Bezug auf die Fertigstellung des OED als auch im Hinblick auf den Kampf um Frauenrechte und Gleichberechtigung auf der Stelle trat. Auch der Beginn des Großen Krieges bremste die Geschichte eher aus, als dass sie zu mehr Spannung oder Dramatik beitrug.
"Die Sammlerin der verlorenen Worte" ist ein eher ruhig erzählter, warmherziger Roman über die Liebe zur Sprache, über die Rolle der Frau zur Jahrhundertwende und das enge Band von Familie und Freundschaft, das über die Konventionen hinweg einen festen Halt im Leben gibt und Esme über ihre Verluste hinweg hilft. Neben der Hauptfigur gibt es noch viele weitere liebenswerte und originelle Charaktere, die real existierten und denen die Autorin Leben einhaucht, wobei es aufgrund der Vielzahl der Figuren, denen Esme begegnet, nicht immer leichtfällt, den Überblick zu behalten. Die fiktive Geschichte ist von realen Ereignissen und Personen inspiriert und eine schöne Vorstellung, durch Engagement, Leidenschaft, Empathie und Hartnäckigkeit, Minderheiten, Schwachen und Unterdrückten Gehör zu verschaffen und etwas Bleibendes zu schaffen.