Rezension

Wie unsere Sprache 'entsteht'

Die Sammlerin der verlorenen Wörter -

Die Sammlerin der verlorenen Wörter
von Pip Williams

Hidden Figures - nur dieses Mal in der Oxford University Press. Frauen, was sie ausmacht und wie sie für ihre Selbstbestimmung einstehen.

'Die Sammlerin der verlorenen Wörter' von Pip Williams ist einer der seltenen Romane, die mich alleine schon vom Grundgedanken her komplett fesseln und begeistern. Hier ist es die englische Sprache, die eine Grundresonanz bei mir erzeugt, es geht um die Entstehung des Oxford English Dictionary und zum Glück ist man nicht auf die Idee gekommen, die Wörter, deren Definitionen mit Zitaten belegt werden oder eben jene Zitate selbst durch eine Übersetzung zu ersetzen! Nur so macht das Buch Sinn, nur so kann es seine Geschichte erzählen. (Stattdessen wurden die deutschen Übersetzungen ergänzt - was dann dennoch jede Verständnisschwierigkeit ausräumt und obendrein die Schönheit der englischen Sprache wirken lässt.)

Es geht um Esme, deren Vater einer derjenigen Lexikographen ist, die im Gartenschuppen von James Murray - dem Scrippy - an dem Jahrhundertprojekt arbeiten. Als Halbwaise sitzt das kleine Mädchen unter seines Vaters Schreibtisch und findet von Zeit zu Zeit ein 'verlorenes Wort', das die arbeitenden Herren aussortieren oder das ihnen vom Tisch fällt. Mithilfe der Magd der Murrays, die sich um das kleine Mädchen kümmert, lernt Esme mit den Jahren, dass Frauen, insbesondere Frauen der niedrigeren sozialen Schichten eine andere Sprache sprechen als die, die von ihrem Vater und seinen Kollegen penibelst dokumentiert wird. Jedes Wort, dass Esme sammelt, erweitert ihr Selbstverständnis und das Verständnis für die Frauen um sie herum. So geht Williams nicht nur auf die historische Schilderung der Entstehung des OEDs (Oxford English Dictionarys) ein, sondern flicht auch politische Diskussionen der Zeit in die Erzählung. Im Fokus steht hier die Rolle der Frau. Was erwartet man von ihr? Was erlaubt man ihr in privater und beruflicher Hinsicht? Welchen Einfluss kann sie wirken?

Der Roman erscheint mir wie ein absolutes Herzensprojekt. Grundsolide und ausführliche Recherche verweben die Erzählung um Esme in der Realität des Oxfords zum Ende des 19. Jahrhunderts. Viele Figuren, wie der 'Vater' des OED - James Murray - sind nach realen Vorbildern ersonnen. Für jeden sprachverliebten Leser - insbesondere wenn sie das Lesen im englischen lieben gelernt haben, wie ich - ist alleine dadurch die Geschichte um die Entstehung des OEDs informativ und faszinierend. Gleichzeitig zu faktischem Wissen aber, hat Pip Williams unglaublich viel Liebe in ihren Roman fließen lassen. Die Hauptfiguren sind vom Charakter her gut und liebenswert, sie haben es nicht leicht, man kann mit ihnen fühlen und leiden. Obendrauf dosiert und platziert Williams die verlorenen Wörter und ihre Belegzitate gekonnt und an wohl gewählten Stellen im Roman, so dass sie durch sie viel mehr an Geschichte erzählt, als an Wörtern im Buche steht. 

Eine Pflichtlektüre, für jede:n Liebhaber:in der englischen Sprache, jede:n Wissenschaftler:in und jede:n Feminist:in!