Rezension

Wer bist du?

Die verschwindende Hälfte - Brit Bennett

Die verschwindende Hälfte
von Brit Bennett

Bewertet mit 5 Sternen

Inhalt:

USA, die 1960er Jahre: Mallard ist ist ein kleiner Ort im ländlichen Louisiana. Keine richtige Stadt, man kann es nicht auf einer Landkarte finden, sondern vielmehr eine Idee. In Mallard leben ausschließlich Schwarze, aber diese sind von Generation zu Generation hellhäutiger. Das Ziel ist es, so hellhäutig wie nur irgendwie möglich zu werden, nur um dann am Ende immer noch Schwarz zu sein. 

Die Zwillinge Stella und Desiree Vignes sind die weißesten unter den Schwarzen Bürgern von Mallard. Nach dem rassistisch motivierten Mord an ihrem Vater leben sie allein mit ihrer Mutter. Doch mit sechzehn haben Stella und Desiree die Nase voll von der Armut und der Enge Mallards. Gemeinsam fliehen sie nach New Orleans, schlagen sich mit Gelegenheitsjobs durch, versuchen irgendwie das große Glück zu machen. Bis Desiree ohne Vorwarnung und über Nacht von ihrer Schwester verlassen wird. Von diesem Punkt an divergieren die Geschichten der beiden Zwillingsschwestern auseinander. Zwei Menschen, die eben noch beinahe gleich gewesen sind, führen nun getrennt voneinander zwei Leben, die nicht unterschiedlicher sein könnten.

Meine Meinung:

In „The Vanishing Half“ oder „Die Verschwindende Hälfte“, wie der Titel in der deutschen Übersetzt heißt, geht es um Zugehörigkeit und Identität. Kein anderes Buch zuvor hat es jemals geschafft, ähnliche Fragen bei mir aufzuwerfen. Was bedeutet eigentlich Schwarzsein oder Weißsein? Und wo ist die Grenze zwischen beidem? Gibt es überhaupt eine Grenze?

Es ist mir schwergefallen, beim Lesen die richtigen Bilder in meinem Kopf entstehen zu lassen. Ich habe mich oft gefragt, wie Stella und Desiree nun eigentlich aussehen. Denn obwohl die beiden eineiige Zwillinge sind, lebt die eine weiter als Schwarze und die andere später als Weiße. In der englischen Originalversion, die ich gelesen habe, ist von einer „transition“ die Rede. So als würde man mit einer Fähre vom einen Ufer zum anderen fahren könnte. Ich habe in diesem Zusammenhang viel über Kultur im Zusammenhang mit Hautfarben und auch über von Menschen Begrifflichkeiten nachgedacht. Was  bedeutet denn Schwarz oder Weiß, wenn man so hellhäutig sein kann, dass man sich als Weiße „ausgeben“ kann und trotzdem noch ein Leben lang Angst haben muss, dass die Vergangenheit ans Licht kommt? (Auf die 60er bis 80er Jahre bezogen natürlich) Ich muss gestehen, dass ich das Buch nicht immer verstanden habe und es mir gleichzeitig vor Augen geführt hat, wie wenig ich das Thema Rassismus immer noch durchdringe.

„The Vanishing Half“ ist in mehrere Zeitabschnitte untergliedert, die Geschichte von Stella, Desiree und ihren Töchtern reicht bis in die 1990er Jahre. Dabei erzählt die Autorin nicht chronologisch, sondern springt zwischen verschiedenen Zeitebenen hin und her. 

Der Text lebt von seinen außergewöhnlichen und intensiv ausgearbeiteten Charakteren. Für Desirees Zweig der Familie konnte ich etwas mehr Sympathie aufbringen, als für den ihrer Schwester. Als ich mir „The Vanishing Half“ gekauft habe, hätte ich tatsächlich nicht damit gerechnet, ausgerechnet hier eines der schönsten Liebespaare in meinem Lesejahr 2021 zu treffen. Die stille, große und bedingungslose Liebe zwischen Desirees Tochter Jude und ihrem Freund Reese hat mich sehr berührt. Und überhaupt - Jude ist die wahre Heldin dieser Geschichte!

Stellas Handlungen und Entscheidungen konnte ich nicht immer nachvollziehen. Ich hätte gerne besser verstanden, was sie dazu motiviert hat, sich in dieses gewaltige Lügengerüst zu verstricken, hätte gerne ein paar Aspekte, der komplizierten menschlichen Beziehungen in dieser Geschichte, noch besser begriffen. Nichtsdestotrotz ist es ein fantastisches Buch, das ich uneingeschränkt empfehlen würde. Es ist viel mehr als nur Black History und Rassismus, es ist auch Liebe, Familie, Menschlichkeit, Selbstfindung, Wahrheit. Das alles. 

Fazit:

„The Vanishing Half“ ist eines dieser Bücher, die man abends im Bett liest und morgens beim Zähneputzen immer noch im Kopf hat. Die Geschichte packt fest zu und lässt lange nicht mehr los. Falls ihr interessiert seid und noch zweifelt, kann ich nur von ganzem Herzen sagen: Lest es!