Rezension

Wortgewaltig!

Was fehlt, wenn ich verschwunden bin
von Lilly Lindner

"...Niemand hat einen zweiten Versuch. Und wenn ich es nicht schaffe, was hast du dann von all meinen Briefen, wenn du mir nie darauf antworten kannst; was passiert mit all den Erinnerungen an mich - und was fehlt? Was fehlt. Wenn ich verschwunden bin." (April)

 

 

Die 9-jährige Phoebe leidet sehr unter der Krankheit ihrer 16-jährigen Schwester April. Diese hat Magersucht und wird in einer Klinik behandelt. Da Phoebe ihre Schwester nicht besuchen kann, schreibt sie ihr regelmäßig Briefe. Und in diesen Briefen erzählt sie ihr was sie erlebt und was sie berührt. Vergeblich wartet sie auf Antworten, denn von April kommen keine Briefe zurück. Aber das hält Phoebe nicht davon ab, April weiterhin Briefe zu schicken. Denn sie vermisst ihre Schwester so sehr.

 

 

"...Meine liebe, liebe April - wenn du nur bald gesund wirst und endlich wieder bei uns bist. Ohne dich sind wir nämlich nicht ganz. Wir sind ein halber Fork. Eine halbe Mama. Ein halber Papa. Und nur noch ein ganz kleines Stück ich. Ohne dich bin ich nämlich nicht einmal halb."

 

 

Als ich die Leseprobe zu dem Buch gelesen habe, war mir klar, dieses Buch muss ich unbedingt lesen. Und ich habe den Kauf des Buches nicht bereut.

 

Das Buch handelt im ersten Teil von den Briefen die Phoebe an April schickt. Im zweiten Teil liest man die Briefe, die April an Phoebe schreibt, aber nicht an sie verschicken kann. Die Geschichte wird also zum einen aus Phoebes und zum anderen aus Aprils Sicht erzählt. So erfährt man viel von dem Seelenleben der beiden.

 

"...Aber ich hätte euch beide nie verraten. Selbst dann nicht, wenn wir gerade zerstritten waren. Schwestern müssen  schließlich zusammenhalten, weil man zusammen viel mehr halten kann als alleine. Gerade, wenn man so viel zu tragen hat wie du, ist das wichtig." (Phoebe)

Phoebe wie auch ihre Schwester April sind äußert intelligente Mädchen. Phoebe spricht und erzählt den ganzen Tag lang. Sie ist neugierig, stellt viele Fragen. Fragen, die ihre Eltern in der Regel nicht beantworten können. Diese sind total überfordert mit dem Wissensdurst und der Klugheit ihrer Töchter. Phoebe wirkt oft altklug, sie weiß Dinge, die viele Kinder in ihrem Alter noch nicht wissen. Es scheint, als würde in ihr eine alte Seele wohnen. Doch eckt mit dieser Begabung überall an. Die Lehrer sind schockiert über ihre Wortgewandheit. Sie ist in der Schule total unterfordert, doch niemand erkennt es oder will es erkennen. Erst recht nicht ihre Eltern. Diese sind schlichtweg entsetzt darüber, dass auch ihre jüngste Tochter diese Sprachbegabung besitzt. 

"Ich denke, wenn Gefühle mit den richtigen Worten auf Papier gemalt werden, berühren sie auch Menschen, die gar nichts mit der Geschichte zu tun haben. ... Bücher schreiben, die schon jemand anderes geschrieben hat, kann doch jeder. Ich muss meine eigenen Sätze finden, zwischen all den Leerzeilen. Und manchmal muss man die Worte vielleicht einfach so stehen lassen, wie sie wollen, man darf sie nicht in eine andere Reihenfolge zwängen, denn Worte haben Gefühle, sonst können sie nicht so schön klingen. Ich meine, was ist ein Buch ohne Rückgrat? Eine Geschichte ohne Leben." (Phoebe)

Denn April hat mal genauso viel geredet wie ihre jüngere Schwester. Doch irgendwann hat sie aufgehört zu sprechen. Weil ihre Eltern sie nicht gesehen haben, sie war unsichtbar. Da April nicht ihren Vorstellungen einer Tochter entspricht. Die Eltern haben wochenlang nicht einmal gemerkt, dass April nicht mehr mit ihnen redet. Erst Phoebe hat sie darauf aufmerksam gemacht.

Mit 8 Jahren hat April aufgehört zu essen. Der Schmerz , der dabei in ihr entsteht, ist leichter zu ertragen, als der seeliche Schmerz. Sie hat nie die Zuwendung und Fürsorge von ihren Eltern erhalten, die ein Kind benötigt. Ihr wird immer wieder von ihrer Mutter deutlich gemacht, welche Enttäuschung sie für sie ist. Das sie nicht normal ist, sich nicht wie andere Kinder bzw. Jugendliche in ihrem Alter benimmt. Ihre Krankheit nehmen die Eltern nicht ernst. Ihrer Ansicht nach will sie nur Aufmerksamkeit. Sie erkennen den Ernst der Lage nicht. Vielmehr verschließen sie die Augen davor. Sie wollen nicht wahrhaben, dass ihre Tochter ernsthaft krank ist. Und es nicht nur die Magersucht, sondern auch die seelische Krankheit. Denn Magersucht hat immer einen Auslöser.

"Ach Phoebe, ich vermisse dich jetzt schon. Du warst die Einzige im Haus, die mich zum Lachen gebracht hat, und die Einzige, die mein abgestumpftes Herz berührt hat." (April)

 

Über die Eltern erfährt man nicht sehr viel. Der Vater ist selbstständig und hält sich am liebsten den ganzen Tag in seinem Arbeitszimmer auf. Vor allem wenn die Mädchen ihn mit seinen Fragen auf die Nerven gehen. Die Mutter arbeitet mit Pflegekindern. Sie scheint für ihre Pflegekinder eine bessere Mutter zu sein als für ihre leiblichen Kinder. Sie beschuldigt April die Familie zu zerstören. Wie kann man nur so was zu einem Kind sagen. Die Eltern sind meiner Meinung nach mit Phoebe und April restlos überfordert. Sie können ihnen einfach nicht gerecht werden. Das wird in vielen Situationen immer wieder deutlich. Ich kann nicht verstehen, warum sie keine Hilfe von außen in Anspruch nehmen wollen. Ab einem gewissen Punkt muss man doch einsehen, dass es nicht so weitergehen kann und dass man Hilfe braucht. Sie können beide nicht mit ihren Töchtern umgehen. April wurde als kleines Kind oft sich selbst überlassen. Auch wenn diese Zeit mit ihren Eltern verbringen wollte, einfach nur von ihnen im Arm gehalten werden wollte. Dies hat sie nicht bekommen. Das hat mich beim Lesen so wütend gemacht. Wie kann man nur so grausam zu seinen Kindern sein.

Phoebe ist so ein wunderbares Wesen, ich hatte sie beim Lesen direkt vor Augen. Wie kann man so ein Geschöpf nur nicht lieben. Sie ist so unschuldig aber auch wahrhaft mutig. Wie sie sich immer wieder gegen ihre Eltern stellt, um ihre Schwester zu verteidigen verdient großen Respekt. 

Der Schreibstil ist sehr beeindruckend und wunderschön. Die Autorin hat mich wirklich bezaubert. Die Sprache ist so poetisch und hat mich völlig in ihren Bann gezogen. In meiner Rezi bringe ich nur einen kleinen Teil der Zitate, die mir so gut gefallen haben. Alle könnte ich hier gar nicht aufführen, dass wäre einfach zu viel.

"Er hat ausgesehen, als würde das Leben bei ihm zu Hause am Küchentisch sitzen und Obst für einen Fruchtjoghurt in Würfel schneiden. Er hat die stille Tiefes des Meeres in sich getragen, die ungebändigten Luftstreifzüge der Seeadler, und er kannte auch die aufgewühlten Wellen." (April)

 

Die Beziehung zwischen Phoebe und April ist etwas ganz besonderes. Die zwei sind nicht nur Schwestern, sie sind Seelenverwandte. Und das ist in jedem Brief zu spüren. Die zwei haben eine Verbindung zu einander, die nichts und niemand zerstören kann. Sie gehören zusammen, sie brauchen sich und geben sich gegenseitig halt. Sie verstehen einander, auch ohne Worte. Phoebe ist die einzige, die erkennt, wie es um April wirklich steht. Sie macht sich die größten Sorgen und kann nicht verstehen, dass ihre Eltern das nicht erkennen wollen. Sie sind immer füreinander da, wenn kein anderer sie versteht. Sie sind beide was Besonderes und daher ist es gut, dass sie wenigstens einander haben. Sie vermissen sich so sehr. Sie lieben sich bedingungslos und dies merkt man in den Briefen.

 

"Ich werde  mich bemühen, April, die liebste und beste Schwester aller Zeiten zu sein, damit du in Ruhe gesund werden kannst. Und wenn Ana kommt, um dich zurückzuholen, dannn kannst du mir Bescheid sagen. Ich helfe dir durch den Tag. Und durch die langen Nächte. Und durch jeden Augenblick,  in dem du nicht alleine sein magst." (Phoebe

Das Buch hat mich so sehr berührt, wie schon lange keines mehr. Ich habe mit April und Phoebe gelitten, gehofft, gelacht und geweint. Ich wollte das Buch nicht mehr aus der Hand legen. Doch oft musste ich es tun, weil ich eine Pause brauchte. Eine Pause von dem Schmerz, den April erleidet. Ich war wütend auf die Eltern, konnte deren Verhalten nicht fassen und verstehen. Ich bin ein sehr emotionaler Mensch und dieses Buch ist mir ziemlich an die Nieren gegangen. Gegen Ende hin hätte  ich nur noch weinen könnenl so sehr hat es mich bewegt. Doch es gibt auch schöne, lustige Momente. Sehr oft hat Phoebe mich zum Schmunzeln gebracht. Es geht hier nicht nur um das Thema Magersucht, sondern um Liebe und Freundschaft. Und die Schönheit der Worte. Das Buch wird mich noch eine lange Zeit beschäftigen. 

"Du bist der Grundstein in meinem Wortschatz, für einen glücklichen Satz. Ohne dich habe ich keine Wortgemeinschaften. Ohne dich steht jedes Wort alleine in einem fremden Raum. So wie ich." (Phoebe)

Von mir gibt es für dieses wundervolle Buch eine absolute Leseempfehlung! Wer dieses Buch nicht liest, verpasst eine Menge. Und wen das Buch nicht berührt, hat kein Herz.