Rezension

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Guter Vorabendkrimi

Engelsschmerz - Anna Martens

Engelsschmerz
von Anna Martens

Bewertet mit 3 Sternen

In welche Falle ist Jule Ziegler getappt, als sie sich auf die einfühlsame Internetbekanntschaft Bernd eingelassen hat?

Eine westfälische Helikoptermutter in begründeter Sorge um ihre Tochter, eine resolute Münchner Kommissarin, die mit beiden Beinen im Leben steht und sich dennoch sensibel aufgrund nur eines kleinen Hinweises Hals über Kopf in die Suche nach der vermissten Tochter stürzt, eine junge Studentin, die in München die Freiheit und Unabhängigkeit – auch von einer Gluckenmutter – sucht, aber von ihrer besten Freundin und ihrem Freund betrogen in eine seltsam anmutende Internetbekanntschaft flüchtet, ihr Nachbar, Nerd und Einzelgänger, der unheimlicherweise über jeden Schritt der Studentin informiert ist und dennoch ihr Verschwinden nicht wirklich bemerkt, zwei verwahrloste Bauernhöfe in der Eifel, bewohnt von einem ebenso verwahrlosen Doktoranden und seinem seltsamen Nachbarn.
In welche Falle ist Jule Ziegler getappt, als sie begann ihren Schmerz darüber, dass ihr Freund Tim sie mit ihrer besten Freundin Lena betrogen hatte, mit ihrer einfühlsamen Internetbekanntschaft Bernd zu teilen? Jedenfalls findet sie sich nach einem weiteren Befreiungsschlag, dem Plan in die Eifel zu Bernd zu fahren und dem Wunsch, in der dortigen Idylle mit ihm zu leben, gefesselt und geknebelt in einem Kellerverlies wieder. Weder Bernd noch die Idylle hatten gehalten, was Jule sich versprochen hatte. Mit ihrem seltsamen Gefühl Bernds Nachbarn Mike gegenüber lag sie jedoch richtig. Denn sein krankes Hirn hat sich ersonnen, sie als Sklavin bei sich zu behalten. Nach quälenden Wochen mit nur wenig Nahrung und wund gelegen erfährt Jules Pein eine weitere Steigerung, als Mike sie in der Küche ankettet. Auch dort geht es Jule nicht besser, psychisch und physisch ein Wrack hält sie dennoch der Gedanke gerettet zu werden sowie der Wasserhahn am Leben. Schließlich bekommt sie mit, dass im Haus noch eine weitere Frau gefangen gehalten wird, der es noch weitaus schlechter ergeht.
Ulrike Ziegler, Jules Mutter, hat sich von Münster aufgemacht um ihre Tochter zu suchen. Sie hat sechs Wochen lang nichts von der Tochter gehört, doch die biedere Hausfrau kann weder die Polizei noch die Vermisstenstelle der Kriminalpolizei davon überzeugen, dass ihre Tochter nicht irgendwo im Urlaub Partys feiert sondern ihr wirklich etwas zugestoßen ist. Lediglich die allein lebende, resolute Kommissarin Annette Kirchgässner glaubt ihr und nimmt sich des Vermisstenfalls an. Mit Rückendeckung ihres Freundes und Kollegen Gigi unterstützt sie Ulrike bei der Suche, bis sich tatsächlich, vermeintlich unterstützt durch den heimlich in Jule verliebten Nachbarn Martin eine Spur ergibt. Allerdings arbeitet die Zeit gegen alle beteiligten Frauen. Dies wird durch die mit Tagesdatum versehenen Kapitel dargestellt.
Im Buch wechseln sich die Kapitel, die Jules Schicksal beschreiben, solche die von der verzweifelten Suche ihrer Mutter zusammen mit Kommissarin Kirchgässner berichten sowie die E-Mails zwischen Bernd und Jule und Mikes kranke Phantasien, ab. Die Leser erfahren von Jules Martyrium, die Suche ihrer langsam selbstbewusster werdenden Mutter wird in der davor liegenden Vergangenheit erzählt. Werden die beiden Handlungsstränge zeitlich zueinanderfinden? Kann Jule sich befreien oder befreit werden? Werden Martin und Bernd noch eine Rolle spielen?
Überraschend schnell findet der sogenannte Thriller sein Ende, viele Antworten auf Beweg- und Hintergründe werden nur andeutungsweise beantwortet. Kennt man es aus vielen Thrillern, dass Psychopathen bis ins Kleinste analysiert werden, so erfährt man hier vergleichsweise wenig über Mike, seine Krankheit, die Hintergründe seiner bösartigen Phantasien. Auch andere Figuren, z.B. Bernd, bleiben eher unvollständig erzählt, wenn man „runde“, aufklärende Erzählweisen mag. Sehr gut kommt an, dass Jule, wenn auch aus Überlebenswillen, in gewisser Weise Schuld auf sich lädt.
Das Buch kommt daher wie ein spannender Vorabendkrimi. Werden wir noch mehr selbstbewusste Alleingänge von Kommissarin Kirchgässner und ihrem kongenialen Kollegen Gigi zu lesen bekommen?