Rezension

Mit Botschaft ohne moralischen Fingerzeig

Speechless (Sprachlos) - Hannah Harrington

Speechless (Sprachlos)
von Hannah Harrington

Bewertet mit 4.5 Sternen

Der Weg die Treppe hinunter kommt mir vor wie der Marsch zum Galgen. Mom und Dad sitzen aneinandergekuschelt im Wohnzimmer und gucken fern.
"Mom?", sage ich mit zitternder Stimme. "Dad?"
Beide drehen sich zu mir um, und die Zufriedenheit in ihren Gesichtern weicht augenblicklich einem besorgten Ausdruck. Bei einer anderen Gelegenheit hätte es fast witzig ausgesehen.
Dad schaltet den Ton des Fernsehers aus. "Was ist los, Schatz?"
Ich hole tief Luft. Jetzt oder nie.
"Ich muss euch etwas sagen."

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INHALT:
Chelsea ist die Klatschtante ihrer Schule - und in dieser Rolle fühlt sie sich wohl, denn Aufmerksamkeit ist ihr auf diese Weise sicher. Da kommt es ihr nur recht, als sie auf einer Party ein sehr pikantes Geheimnis erfährt. Doch die Reaktion darauf ist anders als erwartet, denn ein Mitschüler von ihr wird brutal zusammengeschlagen. Chelsea weiß, dass sie Mitschuld hat und dass ihr loses Mundwerk dafür verantwortlich ist. Also beschließt sie, ein Schweigegelübde abzulegen...

MEINE MEINUNG:
"Speechless" hebt sich von anderen Jugendbüchern ab, das ist ganz klar. Zwar finden wir auch hier Intrigen auf dem Schulhof und zickende Mitschülerinnen, dennoch weiß der Roman durch die Idee zu beeindrucken. Von einer Hauptfigur, die geschworen hat, nicht mehr zu sprechen, liest man nicht oft, und dementsprechend unverbraucht ist die Idee auch. Der Stil ist dabei sehr flüssig und bildhaft, und es gelingt ihm, den Leser an das Buch zu fesseln, obwohl die Konversation meist eher einseitig ist.

Protagonistin Chelsea ist anfangs eines derjenigen Mädchen, denen die Aufmerksamkeit anderer am wichtigsten ist und die sich dafür für nichts zu schade sind. Geheimnisse anderer, die wunderbaren Gesprächsstoff bilden, kommen da grade recht. Nachdem Chelsea jedoch für ein schreckliches Geschehnis gesorgt hat, versucht sie, sich zu ändern. Ihre Wandlung geht dabei anfangs zu schnell, verläuft dann aber in einem glaubwürdigen Tempo, das einem sie und ihre Veränderung sehr gut nahe bringt. Während ihrer Phase des Schweigens lernt sie Sam kennen, der ihr anfangs mit Abneigung und Misstrauen begegnet. Je mehr Zeit die beiden jedoch miteinander verbringen, desto mehr erfährt man als Leser auch von seiner sanften, aber starken Art und lernt ihn so schnell lieben.

Ein grandioser Charakter ist auch Asha, ein gutmütiges und unfassbar fröhliches Mädchen, das sich Chelsea annimmt und ihr als zuerst Einzige mit Freundschaft begegnet. Natürlich ist das klischeehaft - aufgrund ihrer sympathischen Art stört das aber kein bisschen. Einige andere Figuren sind ebenfalls eher stereotyp und schwarz-weiß gezeichnet, besonders die Mitglieder von Chelseas ehemaliger Clique; Personen wie Andy, der Freund des verprügelten Jungen, oder auch Chelseas sehr unterschiedliche Eltern wirken jedoch authentisch und vielfältig, wodurch der Roman in diesem Bereich trotzdem absolut zu begeistern weiß.

Aber auch die vermittelte Botschaft ist nicht ohne - und das völlig ohne moralischen Fingerzeig. Chelsea selbst macht sich daran, herauszufinden, was Recht ist und was Unrecht. Endlich versteht sie, dass Aufmerksamkeit kein glückliches Leben bedeutet, Perfektion nicht möglich ist, und ihre ehemaligen Freunde eigentlich gar keine Freunde waren. Ihre langsame Entwicklung erlebt man hautnah mit, sodass man sich selbst ebenfalls Gedanken machen kann darüber, wie man in ihrer Situation gehandelt hätte - hätte man ebenfalls das eigentlich schöne Leben weggeworfen, um etwas Gutes zu tun? Und in Kauf genommen, von allen verachtet und verspottet zu werden? 

Denn Chelsea zeigt in diesem Roman so viel Mut und Willenskraft, dass es einem selbst, ob man nun will oder nicht, definitiv zu denken gibt. Die Botschaft ist klar: Denke über deine Aussagen nach, bevor du sie machst. Und genau dabei hilft das Schweigegelübde enorm. Das heißt aber nicht, dass das ganze Buch ohne Dialoge auskommt, diese laufen zu einem großen Teil eben einfach anders ab. Auch die Liebesgeschichte ist etwas unkonventioneller, so aber auch nie kitschig, und sie nimmt angenehm wenig Platz ein, schließlich geht es vor allem um Akzeptanz und Freundschaft. Bis zum Schluss bleibt das Ganze auf diese Weise mitreißend und gefühlvoll, ohne je überladen zu wirken. Für Fans von Storys mit Tiefe - sicherlich das Richtige!

FAZIT:
"Speechless" ist anders als viele Jugendbücher, und überzeugt daher vor allem in der Entwicklung der Geschichte und der vielfältigen Charaktere. Es ist ein Roman mit einem ernsten Thema und trotzdem vorhandenen Wohlfühl-Effekt - das zu schaffen, ist schon eine Kunst. Ich vergebe verdiente 4,5 Punkte!