Rezension

Eine Runde belgisches Bier auf Dad Lewis!

Kostbare Tage
von Kent Haruf

Es ist der letzte Sommer für Dad Lewis am Rand der Kleinstadt Holt, die er nie verließ, im Gegensatz zu seinem Sohn Frank, zu dem es keinerlei Kontakt mehr gibt, oder Tochter Lorraine, die nun zur Unterstützung zurückkehrt. Aber es kommen auch neue Gesichter und mit ihnen Geschichten: Die kleine Alice zieht im Nachbarhaus bei ihrer Großmutter ein, und der neue Reverend Lyle hat nicht nur mit den eigenwilligen Anwohnern, sondern auch mit der eigenen Familie zu kämpfen.

Buchbesprechung zu »Kostbare Tage« von Kent Haruf

Dieses literarische Meisterwerk habe ich im Rahmen einer Buchverlosung gegen 4.000 Bonuspunkte auf Vorablesen eingetauscht. Die 352-seitige Softcover-Ausgabe mit der ISBN 978-3-257-07125-2 kostet 24.00 € und erschien am 27. Mai 2020 im Diogenes-Verlag. Übersetzt aus dem Amerikanischen von pociao und Roberto de Hollanda.

*Beurteilung*
Das Cover ist im klassischen Diogenes-Stil gehalten. Das Motiv, welches den Titel Extrem Green trägt, stammt von Carolee S. Clark, einer US-amerikanischen Künstlerin aus Philomath in Oregon. Der Schreibstil ist unaufdringlich und staubtrocken, wozu scheinbar nur männliche Autoren fähig sind. Kent Haruf verzichtet bewusst auf Anführungszeichen bei den ungekünstelten Dialogen, die mir ungemein zusagen. Soll sich der geneigte und anspruchsvolle Leser in einer solch ausweglosen Situation, in der sich unser Protagonist Dad Lewis befindet, die Satzzeichen doch sonst wohin stecken, wo er sie für unentbehrlich hält!

"Er betrachtete die Bierflasche, hielt sie sich vor die Augen und nahm einen kleinen Schluck. Vielleicht sollte ich mir besseres Bier genehmigen, bevor es zu Ende geht. Ein Typ, mit dem ich mich neulich mal unterhalten habe, sagte was von belgischem Bier. Vielleicht probier ich das mal. Falls ich hier so was kriegen könnte. Er saß auf der Veranda, trank und hielt die Hand seiner Frau. Er würde also sterben. Das war es, was sie gesagt hatten. Noch ehe der Sommer vorbei war, wäre er tot."

Als ich diesen Abschnitt las, wurde ich zuerst traurig und empfand so etwas wie Mitleid mit dem alten Mann, über den ich doch noch gar nichts wusste, außer, dass er sein Leben lang erfolgreich einen Eisenwarenhandel führte. Im Stillen dachte ich, Kent Haruf würde hier selbst Abschied nehmen. Doch eine Stunde später musste ich mir vor Lachen den Bauch halten, weil es doch einfach absurd ist, in einer solchen Situation an belgisches Bier zu denken. Okay, weiter im Text:

Es ist Sommer. Und es ist heiß in Colorado. Und der 77 Jahre alte Dad Lewis hat Krebs. Es wird sein letzter Sommer in dieser fiktiven Kleinstadt sein. Seine Gattin Mary und seine Tochter Lorraine kümmern sich aufopfernd um ihn. Nur sein homosexueller Sohn Frank ist nicht anwesend. Erinnerungen drängen in sein Bewusstsein. Er will sein Erbe bestellen und alte Schuld wiedergutmachen. Doch in diesem Buch geht es um mehr als nur um diesen sterbenden Mann. Da rastet zum Beispiel die Familie aus, weil der Pfarrer eine unpassende Stelle aus dem Lukas-Evangelium predigt. Gleichzeitig verbündet sich die Nachbarschaft solidarisch. In dem Haus gegenüber von Dad lebt Berta May mit ihrer achtjährigen Enkelin Alice. Während der alte Mann seinem Tod entgegensieht, lernt das kleine Mädchen Fahrrad fahren. Die Frauen leben weiter, genießen mehr oder weniger den Alltag, während das Sterben dagegen schmerzhaft und qualvoll sehr genau beschrieben wird. Leben und Tod stehen sich nur durch eine staubige Straße getrennt gegenüber. Am Ende weht ein Blizzard über das Land und verwischt alle Spuren ... 

Eine Geschichte über Gegensätze: Leben und Tod, auf der anderen Seite des Zauns ist der Garten immer grüner, Liebe und Hass, Schuld und Vergebung. Der Autor hält dem Leser einen Spiegel vor, in dem er sich selbst betrachten und über seine eigenen Fehler nachdenken kann. In Wahrheit sind es die kleinen Dinge, die das Leben so lebenswert machen. Genügsamkeit, ein belgisches Bier, Händchen halten, Fahrradfahren lernen, und Fünf einmal gerade lassen. Klingt erst einmal nicht berauschend. Eigentlich klingt es nach Nichts. Aber genau das ist die herausragende Kunst, die ich an Kent Haruf bewundere. Er beschreibt das Banale so gekonnt und treffend, dass es schon wieder außergewöhnlich gut ist. Manchmal tritt diese Erkenntnis erst nach Stunden - oder wie bei mir, nach einer Flasche Bier ein. Und das macht dieses Buch so lesenswert.

*Fazit*
Kostbare Tage ist mein erstes Buch von Kent Haruf gewesen, die anderen fünf Romane sind schon bestellt. Und ein Dank an die Übersetzer, die haben ihren Job wirklich gut gemacht.

© 2020 Frau-mit-Hut