Rezension

Über die Härte einer Mutter, die zu viele Kinder lieben muss

Zwölf Leben - Ayana Mathis

Zwölf Leben
von Ayana Mathis

Philadelphia, in den Jahren 1925 bis 1980. Als Fünfzehnjährige, nachdem ihr Vater von Weißen ermordet wurde, floh Hattie mit ihrer Mutter und ihren beiden Schwestern im Rahmen der Great Migration aus Georgia nach Norden, nach Philadelphia, in der Hoffnung, dort Anerkennung, Gleichberechtigung und ein besseres Leben zu finden. Kaum zwei Jahre später ist sie bereits mit August Shepherd verheiratet, einem eigentlich ruhigen Mann, der sich im Laufe ihrer Ehe allerdings zu oft in Clubs herumtreibt und anderen Frauen hinterherläuft. Zehn gemeinsame Kinder werden im Laufe der Jahre geboren, ein weiteres bekommt Hattie mit ihrem Liebhaber Lawrence, mit dem sie versucht, aus den Bürden ihres Alltags zu fliehen. Unter der Last der Verantwortung, ihre Kinder irgendwie satt zu kriegen, anzukleiden und auf das Leben vorzubereiten, unter all den Enttäuschungen, die die Jahre und vor allem die unglückliche Ehe ihr zufügen, wird Hattie hart und unnahbar, ihre Liebe zu ihren Kinder wirkt kalt und stürmisch und legt sich nur dann als warme Decke über sie, wenn sie sie zu verlieren droht.

In zehn Kapitel schildert Ayana Mathis das Leben dieser Großfamilie, vor allem das der Kinder und einer Enkeltochter. Da ist Floyd, begnadeter Trompeter, der den Frauen hinterherrennt, um zu verdrängen, dass es eigentlich die Männer sind, die ihn interessieren. Da ist Alice, gefangen in einer unglücklichen Ehe mit einem Arzt, der sie mit Medikamenten sediert. Ihr einziger Halt ist ihr Bruder Billy, doch irgendwann wird auch für ihn ihre übertriebene Fürsorge zu viel. Da ist Franklin, der im Vietnamkrieg kämpft und durch seine Alkoholsucht seine Frau verlor. Diese und einige weitere Charaktere bilden einen Rahmen um die eigentliche Hauptfigur.

Es sind immer nur Momente, die die Autorin aus dem Leben ihrer Figuren pickt, meist besonders dunkle, besonders bedrückende Momente, die das Gefühl vermitteln, niemand in der Shepherd-Familie würde jemals glücklich werden. Auch wenn immer wieder Hoffnung, Nähe und der Versuch von Liebe durch all die Tragik schimmern, wirkt die Schwere all dieser Schicksale mitunter etwas zu viel. Dennoch liegt in diesem Roman eine starke Detailtreue, ein Gespür für Augenblicke. Es ist Hatties raue Liebe, die nach außen hin mehr Schläge verteilt als Zärtlichkeit, die die Kinder später so sehr straucheln lässt.

Sprachlich ist der Roman zielgerichtet und wirkt durch Wortwiederholungen mitunter simpler gestaltet, als er tatsächlich ist. Die Autorin findet sehr schöne Vergleiche für hervorstechende Momente, auch wenn diese mitunter ein wenig schief geraten. Die wechselnde Perspektivik, die an die jeweilige Situation und Hauptfigur angepasst ist, bietet eine interessante Abwechslung in der erzählerischen Gestaltung des Textes.

Mitunter wünscht man sich, ein wenig mehr über die einzelnen Figuren zu erfahren. Da jedes Kapitel nur an eines bzw. zwei der Kinder gebunden ist und sie in den anderen Abschnitten kaum auftauchen, hält man am Ende lediglich Bruchstücke in den Händen, lauter Lebensabschnitte, über deren Davor und Danach dem Leser nur sehr wenig mitgeteilt wird. Letztlich dienen jedoch all diese Fragmente vor allem dazu, die eigentliche Hauptfigur Hattie zu beleuchten, die vierzig Jahre braucht, um sich endlich ein eigenes Haus zu kaufen, und deren Alltag von den Bedürfnissen ihrer Kinder vollständig verschlungen wird. So zeichnet Ayana Mathis das Portrait einer imposanten, in einer lediglich auf körperlicher Ebene erfüllten Ehe gefangenen Frau vor dem Hintergrund verlorener Hoffnungen, Diskriminierung und unerreichbarer Lebensansprüche.