Rezension

Zu viele Kinder?

Zwölf Leben - Ayana Mathis

Zwölf Leben
von Ayana Mathis

Bewertet mit 4 Sternen

Die Geschichte beginnt 1925. Die 17jährige, farbige Hattie lebt mit ihren Zwillingsbabys Philadelphia und Jubilee sowie ihrem Ehemann August in einem kleinen Haus in Philadelphia. Erst zwei Jahre zuvor ist sie nach einem Lynchmord an ihrem Vater aus Georgia in den Norden geflohen. Hattie ist zuversichtlich, in der sog. Wiege der Freiheit Gleichheit, Gerechtigkeit und Wohlstand zu finden. Das erweist sich schnell als Trugschluss. In der Kälte des Nordens kämpft Hattie vergeblich gegen eine Lungenentzündung ihrer Babys, beide sterben. Hattie erholt sich nie von diesem Verlust, schenkt aber noch neun weiteren Kindern das Leben, obwohl sie dank August, einem Trinker, Spieler und Frauenhelden, ein Leben in Armut führt, weil sie ihrem Mann im Schlafzimmer nicht widerstehen kann . Die erstgeborenen und alle weiteren Kinder sowie ein Enkelkind sind die im Buchtitel bezeichneten Zwölf Leben.

 

Es handelt sich weder um einen Roman noch um eine Sammlung von Kurzgeschichten. Eher haben wir es mit einer Reihe von Charakteristika über die Kinder einer Frau zu tun. Jedes Kapitel ist einem bzw. zwei von Hatties Kindern gewidmet, die in der Folge so gut wie keine Rolle mehr spielen. Die Verbindung wird nur über Hattie hergestellt, und das meistens nur aus der Distanz. Ich hätte mir mehr Verknüpfungen gewünscht, verkenne aber nicht, dass diese Darstellung bewusst von der Autorin gewählt wurde entsprechend ihrer im Klappentext formulierten Intention, „einen Roman über eine große Familie zu schreiben, in der man dennoch einsam ist“. Zwischen den Kapiteln bestehen große Zeitsprünge, die einen erst die Orientierung finden lassen müssen. Sie umfassen die Jahre 1925 bis 1980.

 

Ein wichtiges Thema des Buches ist die Mutterliebe. Hattie geht so sehr darin auf, ihre vielen Kinder mit Essen und Kleidung zu versorgen, dass sie sie darüber in gefühlsmäßiger Hinsicht vernachlässigt und ihnen Liebe und Wärme vorenthält. Sie hat zu wenig Liebe zu geben. Das traumatisiert alle Kinder: Floyd hadert mit seiner Homosexualität; Six wendet sich dem Glauben zu, wird zum hochstaplerischen Priester und Frauenhelden; Alice ist unglücklich in ihrer Ehe mit einem reichen Arzt und wird medikamentenabhängig; Billups wurde als Kind missbraucht; Franklin – Alkoholiker und Spieler – wird Soldat in Vietnam; Bell erkrankt an TB und will nicht mehr leben; Cassie leidet unter Schizophrenie; Ruthie entstammt einer Affäre Hatties; die Nachzüglerin Ella gibt Hattie zu ihrer kinderlosen Schwester in den Süden. Hatties mütterliche Instinkte kommen immer nur dann hervor, wenn ihre Kinder dem Tode nahe sind (die Zwillinge, Six, Bell). Hatties Probleme mit der Mutterliebe erkennt ihr Liebhaber Lawrence gut, als er sich fragt, ob Hattie neben ihren vielen Kindern keine weiteren Kinder lieben könne. „Vielleicht haben wir nur eine begrenzte Menge von Liebe zu vergeben“ (S. 142/3).

 

Darüber hinaus nimmt sich das Buch der „Great Migration“ Anfang des 20. Jahrhunderts an, also dem Exodus der schwarzen Bevölkerung aus den Südstaaten in den Norden. Hattie erkennt am Ende treffend, dass die Verarbeitung der Unterdrückung der Farbigen mehr als eine Generation braucht – „Hier sind wir, seit sechzig Jahren aus Georgia fort, …, eine neue Generation ist geboren, und immer noch gibt es dieselben Verletzungen, denselben Schmerz“ (S. 361).

 

Interessant sind die biblischen Bezüge des Buches. Das liebste Bibelzitat von Hattie wird mehrfach erwähnt: „ … der Mensch wird zu Unglück geboren, wie die Vögel schweben, emporzufliegen“. Insoweit ist der amerikanische Originaltitel „The Twelve Tribes of Hattie“ passender als der deutsche, bezieht er sich doch deutlicher auf die zwölf Stämme Israels.

 

Ein beachtlicher Debütroman für Leser mit Lust auf ein eher traurig stimmendes Buch ohne Happy End.