Rezension

Tagtäglich beweisen, dass wir aus der Geschichte gelernt haben

Deutsches Haus - Annette Hess

Deutsches Haus
von Annette Hess

Bewertet mit 5 Sternen

Ein Buch über das Gestern, dass uns auffordert, im Heute genau zu prüfen, welchen Wert wir in Kauf nehmen müssten, wenn wir einen persönlichen Vorteil in Anspruch nehmen möchten.

Vorausschickend: Ich hatte mich mit dem Thema Nationalsozialismus und dessen Gräueltaten bereits neben Geschichtsunterricht und Literatur auseinandergesetzt und sofort TV-Filmen wie „Das Urteil von Nürnberg“, „Der Staat gegen Fritz Bauer“ und „Die Akte General“ im Kopf, weshalb ich sehr gespannt war, welche Perspektive die Autorin Annette Hess einnehmen wird und inwieweit dies meine bisherige Sichtweise beeinflussen würde.

Meine Meinung zum Buch:
Annette Hess gelingt es auf beeindruckende Weise, ihre Protagonistin Eva stellvertretend für die (im/nach dem Krieg geborenen) LeserInnen loszuschicken, um Antworten zu finden, wie weit das Vergessen-Wollen, Verdrängen, Verstummen sowohl innerfamiliär als auch gesellschaftlich nach dem Krieg um sich gegriffen hatte.

Sie führt in eine Zeit des Wirtschaftsaufschwungs, der Fassaden der heilen Familien und der ach so vielen, die nicht gewusst haben wollen, was während des Krieges passiert sei, thematisiert die Frage der individuellen und kollektiven Schuld und zeigt auf, wie schwierig es für das Gericht war, die Verbrechen der sich hinter dem „Befehlsnotstand“ versteckenden Angeklagten zu sühnen.

Die Reaktionen beim Vorort-Termin im KZ Auschwitz haben mich besonders nachdenklich gestimmt, denn es ist bitter, dass sich die emotionale Dimension – obwohl die Fakten bekannt waren – bei einigen der Teilnehmer erst vor Ort erschloss.

Mit Eva erleben wir auch die Zeit der Frauen in den 60er Jahren, in welcher unter anderem der Mann seine (zukünftige) Frau dominierte (und sogar entscheiden durfte, ob sie berufstätig ist und in welchem Beruf/Umfang).

Eva vollzieht eine beeindruckende Entwicklung, will „Hinschauen“, sich mit der Vergangenheit auseinander setzen und emanzipiert sich dadurch von ihrem Verlobten Jürgen, der selbst mit seiner Kriegsschuld zu kämpfen hat, und auch ihren Eltern, deren fehlendes Vertrauen und der Verrat an ihr als Tochter besonders schwer wiegen.

Annette Hess arbeitet viel mit Symbolen, beispielweise der Name der Gaststätte „Deutsches Haus“, welcher auch für die gesamte Gesellschaft/Nation zu verstehen ist.

Auch ihren „Nebenschauplatz Annegret“ (Evas Schwester) habe ich symbolisch für das tagtägliche Wegschauen zum eigenen Vorteil verstanden: Annegrets Wertesystem scheint - vermutlich kriegsbedingt - verschoben zu sein und zeigt sich anhand „kleinerer“ Grenzüberschreitungen (Lesen von Evas Tagebuch), nimmt jedoch schreckliche Dimensionen an.
Ihr Liebhaber bevorzugt es, wegzuschauen/zu verschweigen - zu seinem persönlichen Nutzen, denn er will mit Annegret ein neues Leben in einer neuen Stadt beginnen.

Weshalb der damalige Generalstaatsanwalt Fritz Bauer im gesamten Buch nie namentlich erwähnt wird bzw. welche Botschaft Annette Hess mit der Person Davids (für die Staatsanwaltschaft tätiger kanadischer Jurist) beabsichtigt, ist für mich nur bedingt nachvollziehbar, beeinträchtigen jedoch in keiner Weise meinen positiven Gesamteindruck des Buches.

Fazit:
Gerade in Zeiten wie diesen, wo Gruppierungen (und Parteien) verstärkt wieder Menschen/Nationen gegeneinander auszuspielen versuchen, ist ein derartiges Buch besonders wichtig!

Es fordert uns auf, aus der Geschichte zu lernen und im Heute besonders genau hinzuschauen, wenn uns - egal von wem - ein „Vorteil“ oder „Gewinn“ offeriert wird (politisch häufig als „Klientelpolitik“ bezeichnet), ohne die Kehrseite/den dafür zu zahlende Preis/drohenden Werteverlust ausreichend zu benennen.

Jede/r trägt Verantwortung, wohin sich eine Gesellschaft entwickelt, in ihrem/seinen täglichen Tun und insbesondere an der Wahlurne! Wir sind es uns selbst (und unseren Kindern bzw. Nachfolgegenerationen) schuldig, diese Verantwortung auszuüben!