Rezension

Mitreißendes Buch um Schuld und Mitschuld

Deutsches Haus - Annette Hess

Deutsches Haus
von Annette Hess

Bewertet mit 5 Sternen

Harmlos fängt er an, der Roman, ein bisschen Familie, ein bisschen Liebe, das alles in der spießigen Zeit nach dem 2. Weltkrieg, leichtfüßig und locker erzählt.

Doch dann fühlte ich mich wie von einem Sog erfasst, mit Haut und Haar verschlungen. Eigentlich war es umgekehrt, ich habe das Buch atemlos zu Ende gelesen und als ich im Bett lag und schlafen wollte, wurde ich von geistigen Verdauungsstörungen geplagt und hatte ein paar Stunden Schlaf weniger, nicht, weil alles so schrecklich war (das auch), sondern weil mir 1001 Gedanken, Fragen und Antworten durch den Kopf spukten. Und das tun sie noch immer.

Eva mit Dolmetscherdiplom für Polnisch (wieso Polnisch?) lebt mit ihrer dicken, älteren Schwester Annegret, Säuglingsschwester, dem kleinen Bruder und einem Dackel noch bei den Eltern, die eine Gastwirtschaft führen. Sie sind rechtschaffen und fleißig und gehen liebevoll mit ihren Kindern um. Gerade warten sie auf Evas Freund Jürgen, der sich hoffentlich dazu durchringt, beim Sonntagsbraten um Evas Hand anzuhalten. Er kommt aus einem wohlhabenden Elternhaus und wirkt gleich von Anfang an kalt und unsympathisch und hat altmodische Ansichten über die Stellung der Frau in der Ehe.

Doch jäh wird Eva aus dieser Idylle mit Sonntagsgans gerissen, weil sie beruflich vertretungsweise einspringen muss. Unmerklich gerät sie damit in den Umkreis der Aufarbeitung der Gräueltaten der Nazis; sie wird Dolmetscherin im ersten Auschwitzprozess und erfährt Dinge, die sie in ihren Grundfesten erschüttern. Nicht nur das, in ihr erwacht eine Rebellin, die zwar keinerlei persönliche Schuld trägt, aber durch ihre Familie nicht unbeteiligt ist.

Das deutsche unbedarfte Fräulein muss sich Vorwürfe anhören:

"Für euch kamen '33 die kleinen braunen Männchen in einem Raumschiff und landeten in Deutschland, was? '45 haben sie sich dann wieder verzogen, nachdem sie euch armen Deutschen diesen Faschismus aufgezwungen hatten." (33) – "Sie sind eins von diesen Millionen dummen Fräuleins." (34)

Eva wird mit den Verdrängungs- und Verleugnungsmechnismen nicht nur der Angeklagten, sondern auch vermeintlich Unschuldiger konfrontiert: nichts gewusst / warum Prozess hier in der Stadt / die vielen Steuergelder / ruhen lassen / die wollen nur Entschädigung / das war doch nur ein Arbeitslager u.v.m, Sprüche und Ansichten, die man auch heutzutage immer noch oder wieder hört.

Das Faszinierende an diesem Buch: schon von Anfang an hat die vermeintliche Idylle Risse und Sprünge, die sich dem aufmerksamen Leser in dem ein oder anderen Satz offenbaren und beim weiteren Lesen immer offenkundiger werden.

Es geht um Schuld und Mitschuld, darum, was man hätte tun können und ob man etwas hätte tun können, eigentlich keine neuen Fragen, aber hier so eindringlich in einen Roman verpackt, dass man sich der Problematik nicht entziehen kann.

"Die? Wer sind die? Und ihr, was wart ihr? Ihr wart ein Teil des Ganzen. Ihr wart auch die! Ihr habt das möglich gemacht. Ihr habt nicht gemordet, aber ihr habt es zugelassen." (335)

Wer sich jetzt fragt: Warum schon wieder? Was geht es mich an? Ich bin nicht in Deutschland geboren, ich bin danach geboren, ich habe nichts gemacht, meine Eltern und auch Großeltern auch nicht, dem sei gesagt:

Aus der Geschichte kann man und sollte man lernen, denn: "Wehret den Anfängen!" Das ist zwar ein abgenutzter Spruch, aber darum nicht weniger wahr. Wenn sich autoritäre, undemokratische Regimes zu etablieren beginnen, kann jeder zu Anfang etwas tun, sich informieren, protestieren, dagegen halten, sich wehren. Irgendwann aber ist es zu spät. Und wer setzt schon gerne sein eigenes Leben oder das seiner Familie aufs Spiel?

Alles in allem: ein beeindruckendes Buch um Schuld und Mitschuld, um die Frage, wie man schuldig werden kann (auch bei den Nebenpersonen und ihren Handlungen) und mit vielen Gedankenanregungen.

"Niemals hätte dieses sogenannte Reich so allumfassend funktionieren können, wenn da nicht die allermeisten mitgemacht hätten." (255)

P.S. Und wie passend der Titel ist! Deutsches Haus heißt die Gastwirtschaft, ein deutsches Haus stand in Auschwitz und das deutsche Haus ist unser aller Staat.