Rezension

Gegen das Vergessen

Deutsches Haus - Annette Hess

Deutsches Haus
von Annette Hess

Bewertet mit 5 Sternen

          »Dieser Roman kommt genau zur richtigen Zeit.« Iris Berben
Die vielfach ausgezeichnete Annette Hess legt mit „Deutsches Haus“ ihren ersten Roman vor, der am 21.09.2018 im Ullstein-Verlag erschien. Sie ist vornehmlich als Drehbuchautorin tätig. Sehr erfolgreich liefen die Serien "Weissensee", "Ku'damm 56" und Ku`damm 59“ im Fernsehen, in denen Nachkriegsdeutschland schon das Thema war. Im Roman "Deutsches Haus" widmet sich die Autorin der westdeutschen Vergangenheitsbewältigung.
Die überwiegende Handlung spielt in Frankfurt im Jahr 1963. Der erste Auschwitz-Prozess wird vorbereitet. Durch einen Zufall kommt die junge Eva Bruhns, eine gelernte Dolmetscherin, Übersetzerin für die polnische Sprache, zu der verantwortungsvollen Aufgabe, Zeugenaussagen zu übersetzen. Ihren Eltern, Inhaber einer Speisegaststätte, und ihrem Verlobten ist das gar nicht recht. Doch sie widersetzt sich und bringt damit ihre Zukunft mit dem reichen Versandhausbesitzer Jürgen Schoormann ins Wanken. Je tiefer Eva in die Materie der Gerichtsverhandlungen eindringt, je mehr sie von den Gräueltaten der Angeklagten erfährt, umso mehr nimmt sie wahr, wie sie sich an lange zurückliegende Ereignisse erinnert, an ihre frühe Kindheit...
In vier Teilen ohne Kapiteleinteilung, aber mit deutlich abgegrenzten Leseabschnitten wird anschaulich und detailreich das Leben in der Bundesrepublik in den 60ern erzählt. Es wird hinter die Fassaden der anscheinend so heilen, intakten Welt geschaut. Es ist die Zeit des Wirtschaftsaufschwungs und 18 Jahre nach dem Ende des Krieges wollen viele nichts mehr von der Zeit vor 45 wissen. Eva, die durch ihren Geburtsjahrgang (1939) eigentlich gar nichts wissen kann, bekommt von einem jungen Mann (David Miller), der für die Staatsanwaltschaft in dem Auschwitzprozess arbeitet, ihr „Fett“ weg.

„Ihr seid alle so ignorant...Für euch kamen ´33 die kleinen braunen Männchen in einem Raumschiff und landeten in Deutschland,...´45 haben sie sich dann wieder verzogen, nachdem sie euch armen Deutschen diesen Faschismus aufgezwungen hatten.“ [S. 33]
„Sie sind eins von diesen Millionen dummen Fräuleins.“ [S. 34]

Mich beeindruckt bei dem Roman die Authenzität, die Emotionalität. Es gibt viele erschreckende Momente, die mich tief erschüttert haben. Hier bemerkte ich deutlich das Handwerkszeug der Drehbuchautorin. Die Bilder stellten sich wie von selbst ein.
Annette Hess ist es hervorragend gelungen, in ihrer sorgsam eindringlichen, detailgetreuen Darstellung der Ereignisse im Gerichtsprozeß, im Umgang mit den Angeklagten und Zeugen, in den Lebensumständen der Familien Bruhns und Schoormann, die Brisanz darzustellen. Die Älteren schleppen ihre schlimmen Erinnerungen mit sich, die einerseits verdrängt (die Eltern Bruhns) und anderseits als Teil des Krankheitsbildes (Walter Schoormann) immer wieder gegenwärtig werden.
Das Buch besticht durch seine lebendige Erzählung. Die Ausdrucksweise und Lebensart ist originalgetreu wie in den 60ern. Mit  „Evas Ungehorsam“ wird auch die Rolle der Frau in dieser Zeit thematisiert. Die Sprache der Autorin empfand ich oft als bildhaft und ausdrucksstark („Der Hellblonde“, „Die Bestie“, „Schimpansengesicht“). Vielleicht hätte es die Figur der Kinderkrankenschwester Annegret (die ältere Schwester Evas) nicht unbedingt bedurft. Dieser Charakter ist sehr problembeladen und verdichtet nochmals das ohnehin sehr emotional packende Thema der Massenvernichtung von Menschen. Ja, und was aus David Miller geworden ist, hätte ich gern noch erfahren! Sein Schicksal bleibt ungeklärt.
„Deutsches Haus“ empfinde ich als gelungenes Romandebüt. Es ist ein Buch, das die Fragen der persönlichen und der kollektiven Schuld thematisiert. Ein Buch gegen die Verdrängung, gegen das Vergessen der größten Massenmorde in der Geschichte der Menschheit. Ein Buch gegen die Vorspiegelung falscher Tatsachen.

Von mir gibt es fünf von fünf Sternen und eine bedingungslose Kauf-/Leseempfehlung.