Rezension

Eine erschreckende Dystopie, die die richtigen Fragen stellt.

Institut für gute Mütter -

Institut für gute Mütter
von Jessamine Chan

Bewertet mit 5 Sternen

"Mütter müssen, ob sie wollen oder nicht, Mütter müssen, auch wenn sie nicht mehr können. Eigentlich, so könnte man fast meinen, käme Mutter von müssen."
(Jana Heinicke 2022, Aus dem Bauch heraus, S. 21)

Nur ein einziger Fehler, ein winzig kleiner Moment der Unachtsamkeit. Nur einmal kurz die Augen schließen, weil die Müdigkeit den Körper übermannt. Nur kurz raus, den Raum verlassen, um wieder zu sich zu kommen, weil die Gefühle verrückt spielen. Zack - da ist das Kind von der Schaukel gefallen, gestolpert, hat sich verletzt und weint bitterlich. Ist man deswegen eine schlechte Mutter? Oder erst, wenn man sein Kind über Stunden alleine lässt und es so sehr weint, dass Nachbarn die Polizei rufen?

Für Frida wird ein einziger Fehler zum Verhängnis. Sie, eine liebevolle, zugewandte Mutter, überlässt in einem Moment purer Überforderung ihr Kind sich selbst und erwacht daraufhin in ihrem schlimmsten Albtraum: Ihre kleine Harriet wird "in Schutz" genommen und wohnt ab sofort bei ihrem Ex-Partner und seiner neuen Freundin. Alles zum Wohle des Kindes, denn ihre Mutter ist nun eine Gefahr für sie. Frida steht daraufhin unter absoluter Beobachtung durch die Kinderschutzbehörde und muss erst beweisen, dass sie für ein Kind sorgen kann. Sie wird zur Teilnahme an einem neuartigen, einjährigen Programm in einer Besserungsanstalt, im sogenannten "Institut für gute Mütter", verpflichtet. Nur wenn sie besteht, bekommt sie das Sorgerecht für ihre Tochter zurück. Doch der Albtraum nimmt kein Ende...

Dieses Buch ist krass. Es hat mich völlig in seinen Bann gezogen und mich gleichzeitig an meine Grenzen gebracht. An die Grenzen dessen, was eine Mutter überhaupt ertragen kann. Das Gedankenexperiment, das Jessamine Chan in diesem Roman anstößt, ist absolut erschreckend und in seiner Konsequenz extrem gut ausgearbeitet. Mithilfe von KI-Puppen sollen aus schlechten Müttern gute Mütter werden. Die Interaktionen mit ihren KI-Kindern (ja, sie sehen ihren "Müttern" ähnlich und erinnern an die eigenen Kinder!) werden überwacht, aufgezeichnet, ausgewertet und beurteilt. Es zählt die perfekte Länge einer Umarmung, der optimale Tonfall im Gespräch und eine korrekte Wortwahl beim "Mutterisch", der natürlichen "Muttersprache", die jede gute Mutter im Schlaf beherrschen sollte. Tag und Nacht werden die Mütter schikaniert und müssen sich unter unmenschlichsten Bedingungen in jeder Sekunde beweisen. Fehler werden hart bestraft, Versagen ist unmöglich. Nebenbei sollte erwähnt werden, dass es natürlich auch ein Institut für schlechte Väter gibt. Dort sieht man alles allerdings ein wenig lockerer, es sind schließlich nur die Väter der Kinder. Die machen keine richtig schlimmen Fehler und wenn doch, dann - "Wo war nochmal die Mutter?"

Man merkt meiner Rezension an, dass dieses Buch mich sehr wütend gemacht hat. Jessamine Chan legt den Finger tief in die Wunden eines völlig verstaubten Rollenbildes. Die gute Mutter. Jana Heinicke beschreibt es in ihrem Buch "Aus dem Bauch heraus" aus dem Jahr 2022 unglaublich treffend:
"Denn genau das war die Verheißung: Wenn sie es schafften, diesem schier unerreichbaren Idealbild zu entsprechen, würden sie die Anerkennung bekommen, die ihnen zustünde [...]. Schafften sie es jedoch nicht, handelten sie wider der Natur. Ironischerweise war es also die Überhöhung der Mutter, die maßgeblich zu ihrer Unterdrückung beitrug." (S. 168) Exakt diesen Widerspruch thematisiert Jessamine Chan in ihrer absurden und gleichzeitig so realen Dystopie. Die Handlung ist komplett überspitzt, aber trifft genau den Kern des Problems: Was macht eine gute Mutter aus? Gibt es sie überhaupt? Wer sollte das messen dürfen und vor allem wie?

Mir hat der Roman außerordentlich gut gefallen. Auch jetzt, noch Monate nach dem Lesen, habe ich gewisse Szenen und Bilder glasklar vor Augen und selten habe ich so geweint beim Lesen eines Buches. Man könnte der Autorin vorwerfen, dass sie übertreibt. Aber ist es nicht eigentlich "unsere" Realität selbst, die übertriebene Erwartungen an Frauen und Mütter stellt?