Rezension

Eine Frau - so alt wie das Jahrhundert

Sturmvögel -

Sturmvögel
von Manuela Golz

Bewertet mit 5 Sternen

Emmy Seidlitz hat sich nach einem erfüllten Leben damit abgefunden, dass dieses Leben bald enden wird. Mit Mitte 80 ist ihr Körper ihr inzwischen zur Last geworden, kaum jemand ihrer Generation hat ein so hohes Alter erreicht. Als Emmys überfürsorgliche Tochter Hilde darauf dringt, dass ihre Mutter sich von einem Facharzt untersuchen lässt, reicht es Emmy endgültig. Sie wird sich von einem Grünschnabel um die 40 doch keinen Herzschrittmacher aufschwatzen lassen. Die alte Dame reagiert schlagfertig und respektlos wie eine Berliner Göre. Wer hätte gedacht, dass Emmy von einer kleinen Nordseeinsel stammt und mit mehreren Schwestern zu einer Zeit aufwuchs, als Mädchen als reine Arbeitskräfte galten. Emmys Mutter Janne predigte ihrer wissbegierigen Tochter, dass die Schafe der Familie stets zuerst kommen und Schule allein deshalb unwichtig wäre, weil Männer keine Frau wollen, die Lesen und Schreiben kann. Fünf Jahre Schule sind genug, beharrte nach dem Tod der Eltern auch Emmys Großmutter. 1921 wird die verwaiste Emmy als Dienstmädchen in einen bürgerlichen Haushalt nach Berlin geschickt.

In der Gegenwart der 90er hat Tochter Hilde in Emmys Keller Unterlagen entdeckt, die ihren Blutdruck in die Höhe treiben. Emmy jedoch gibt sich uninteressiert, bei nächster Gelegenheit wird sie sich darum kümmern. Dass ihre Kinder sie mit Fragen löchern, passt ihr im Moment gerade schlecht. Bei Kriegsende 1945 war Emmys Mann in Potsdam stationiert. Wer sich mit der Geschichte Berlins befasst hat, wird ahnen, was Emmy jahrzehntelang in ihrem Keller verstauben ließ und warum Hilde und Bruder Otto so scharf darauf ist. Wie Emmy am Ende ihren Nachlass ordnet, überrascht ihre Kinder mit einiger Wucht …

In zahlreichen Rückblenden entfaltet Emmy Golz das harte Leben von Emmys Vorfahren seit 1870, ihr Aufwachsen auf der Insel  in bitterer Armut und den Kulturschock, der in der Großstadt auf sie wartete. Im Wechsel zwischen der Gegenwart der 90er, den 70ern und dem Zweiten Weltkrieg lernen Golz‘ Leser Emmys Kinder kennen und begreifen deren kompliziertes Verhältnis zueinander. Während Emmy allmählich die Zeit davonzulaufen scheint, sich endlich um das wertvolle Gerümpel im  Keller zu kümmern, fieberte ich der Erklärung entgegen, wer eigentlich Annie ist und warum Hilde schon immer eifersüchtig auf die junge Frau war.

Inspiriert vom Leben ihrer Großmutter, legt Manuela Golz einen komplexen Familienroman vor, der sich über ein ganzes Jahrhundert erstreckt. Einige überdramatische Abschnitte und Emmys Charakterisierung als kesse Göre hätte das bescheidene Mädchen selbst vermutlich zu dick aufgetragen gefunden, insgesamt  ragt „Sturmvögel“ mit seiner empathischen, glaubwürdigen Darstellung der 20er bis 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts heraus. Meine zahlreichen Großtanten, die in Berliner Haushalten „in Dienst“ waren, würden dazu beifällig nicken.