Rezension

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Sie hat es immer gemocht, Hunger zu haben

All das zu verlieren - Leïla Slimani

All das zu verlieren
von Leila Slimani

Bewertet mit 4 Sternen

Adèle ist eine moderne Frau – sie ist unabhängig, berufstätig, Mutter und Gattin. Modern ist sie aber auch darin, egoistisch zu sein, ihren Bedürfnissen zu folgen, ja: ihrer Gier nachzugeben. Statt sich in einem Leben einzurichten, wie die Konventionen es vorsehen und wie sie es sich eigentlich gewünscht hat, folgt sie ihrem krankhaften Sextrieb, ihrer Sexsucht und hat Affären und sexuelle Beziehungen zu Männern, wobei sie nicht einmal besonders wählerisch ist. Sie braucht sowohl die körperliche Sättigung als auch die Anerkennung als begehrenswertes Objekt der Begierde. Dieses Lebenselixier schlürft sie im Übermaß – kein Wunder dass irgendwann das Doppelleben, das sie lebt, auffliegt und in einer Krise endet: Ihr Mann kommt dahinter, dass Adèle ihn nicht nur hintergeht, sondern viel schlimmer: den Sohn vernachlässigt.

Leila Slimani gewährt im ersten Teil des Romans eine Innensicht in Adèles von der Sucht gezeichnetes Leben. Diese Sucht begann schon in frühen Jahren, keineswegs erst als Auswuchs einer Wohlstandsverwahrlosung oder einer aus der Langweile der Ehe mit dem Arzt Richard geborene Flucht: „Sie hat es immer gemocht, Hunger zu haben.“ (S.72) Die Deformation von Adèles Charakter mag krankhaft sein, sie hat aber auch etwas Über-Individuelles, weil sich in der – nicht gerade sympathischen – Mythomanin auch die Ich-Bezogenheit einer ganzen Gesellschaft spiegelt. Der Wahn, den eigenen Spaß zu optimieren, Bindungen und Verpflichtungen zu vernachlässigen und die Bedeutung von Äußerlichkeiten zu übertreiben. Ihr Kind beispielsweise als ultimative, verpflichtende Fremdbestimmung ist einerseits Bezugspunkt einer überkommenen Lebensvorstellung als Mutter, anderseits emotionale Mitte Adèles, andererseits einfach nur „lästig“ (S.36).
Im zweiten Teil nimmt der Roman Richards Perspektive ein: Er hat die Familie aufs Land verfrachtet, Adèle zu Änderungen verpflichtet und sie in einem konformistischen leben regelrecht eingesperrt.

Nicht zufällig heißt Richard „Robinson“ mit Nachnamen – immerhin ein absolut ungewöhnlicher französischer Name und deshalb bedeutsam. Richard zwingt Adèle zu einer Robinsonade, einem einsamen Inseldasein auf dem Land ohne Kontakt zu Adèles vorherigem leben. Gleichzeitig war Adèle selbst vorher selbst schon nichts anderes als eine Insel – eine Existenz ohne feste Verbindungen nach außen, allein treibend im Meer des Unverbindlichen. Der deutsche Titel „All das zu verlieren“ regt zu recht die Frage an: Was gibt es denn in diesem Leben zu verlieren? Den ungezügelten Hedonismus? Die Selbstbestimmtheit der Frau? Die Dominanz der Frau in einer üblicherweise Männern zugeschriebenen sexuellen Hierarchie? Die bürgerliche Fassade? Die Familie?

Vielleicht ist Adèles Sucht auch nichts anderes als eine Krankheit, die aus den Zwängen und Normierungen entstanden ist, der eine Frau in dieser Welt von heuet ausgesetzt ist. Die konformistische Tradition erzeugt erst die Deformation Adèles – in die sie dann auf dem Lande regelrecht zurückgezwungen wird, in den „Garten des Ogers“ (so der französische Originaltitel: „Dans le jardin de l’ogre“). Vielleicht aber ist der Unhold ("l'ogre"), der Adèle in seinen Fängen hält, auch die Sucht.

Slimani erschafft eine verstörende, nicht sympathische, aber faszinierend dominante Frauenfigur, die durch einen in zwei Teile zerfallenden Roman prescht – erst in den Abgrund der Sucht, dann in das Zeitlupenleben Richards. Sex und Gewalt werden nicht geschönt, die Lektüre ist unmittelbar und hart. Der Roman wirkt nicht besonders literarisch, aber vollkommen authentisch. Ein starkes Buch, das nicht vorbei ist, wenn es ausgelesen wurde.

Kommentare

wandagreen kommentierte am 15. Juni 2019 um 19:40

Spaß. Also Adèle hatte keinen Spaß. Hätte sie welchen gehabt, würde ich dir rechtgeben. Aber sie hatte ihn eben nicht. Insofern ist sie nicht hedonistisch, sondern selbstzerstörerisch. Erinnert mich mehr an islamische Selbstmordattenäter als an einen Genußmenschen. Adèle schlürft kein Lebenselixier, sondern findet das Leben sinnlos.

Ichbezogenheit  - ja, das stimmt vermutlich.

Das vorherrschende Gefühl von Adèle ist Angst. Selbstverwirklichung keine Spur.