Rezension

Wie konnten drei Leuchtturmwärter spurlos verschwinden? Atmosphärisches und intensives Leseerlebnis

Die Leuchtturmwärter -

Die Leuchtturmwärter
von Emma Stonex

Bewertet mit 4 Sternen

„Auf einen Landmenschen wirkt das Meer ziemlich beständig, aber Jory weiß, dass es das nicht ist: Es ist launisch und unberechenbar, und wenn man nicht aufpasst, erwischt es einen.“

1972 verschwinden drei Leuchtturmwärter vom Maiden Rock-Leuchtturm vor der Küste Cornwalls spurlos. Sie lassen ihre drei Frauen Helen, Jennifer und Michelle zurück. Zwei Jahrzehnte später möchte der Autor Dan Sharp herausfinden, was mit den Männer wirklich geschah. Er spricht mit den Frauen, die alle ihre persönlichen, gut gehüteten Geheimnisse haben. Ob die Wahrheit endlich ans Licht kommt?

 

Emma Stonex schreibt klar, verständlich und stilistisch „schön“. Viele der treffenden, bemerkenswerten Sätze musste ich immer wieder lesen, so beeindruckt haben sie mich. Die Autorin setzt bewusst, gekonnt und abwechslungsreich ganz verschiedene sprachliche Stilmittel ein. Wenn Helen beispielsweise Dan Sharp ein Interview gibt, gibt Stonex nur das wieder, was Helen denkt, was in ihr vorgeht, was sie sagt. Was Dan Sharp zum Gespräch beiträgt, wird nicht erwähnt. Ein Dialog wird also einseitig betrachtet zum Monolog. Stonex kreiert dadurch eine besondere Atmosphäre. Die ganz eigene Stimmung, die Einsamkeit auf dem Leuchtturm, fängt sie präzise und treffend ein. Stonex erzählt nicht chronologisch. Die Erlebnisse und Gedanken der Frauen 1992 werden genauso ausführlich geschildert wie die Rückblenden aus der Zeit vor dem Verschwinden der Leuchtturmwärter. Nach und nach erhalten die Leser Bruchstücke einer Geschichte, die sich immer klarer zusammenfügt. 

 

Wer waren die verschwundenen Männer Arthur, Bill und Vincent wirklich?  
Die Leser erleben die Männer selbst in Szenen vor ihrem Verschwinden und schließen aus den Erzählungen der Frauen, was diese Männer umtreibt und bewegt. 

Bill beispielsweise hat ein schwieriges Verhältnis zum Meer: „Ich kann das Meer nicht leiden, und das Meer kann mich nicht leiden. 

Arthur scheint mit dem Meer und dem Leuchtturm auf unsichtbare Weise verbunden zu sein. Den Tag, an dem Leuchttürme keine Wärter mehr braucht wird, fürchtet er: „Bald und ich denke nicht gerne darüber nach, wie bald, wird eine Maschine meine Arbeit erledigen. Diese Maschine wird den Turm nicht so brauchen wie ich, sie wird ihn nicht. Mit der Technik kann das Licht eingeschaltet und die Nebelkanone abgefeuert werde, aber Technik kann sich nicht um die Leuchttürme kümmern, und das brauchen sie, jemand muss sich um ihre Substanz kümmern, um ihre Seele.“ 

Vince hat eine schwere Kindheit, ist in verschiedenen Pflegefamilien aufgewachsen, er gerät dabei auf die schiefe Bahn und landet im Gefängnis. Durch die Arbeit als Leuchtturmwärter versucht er seiner Vergangenheit zu entfliehen. Doch das ist nahezu unmöglich, wie seine Freundin Michelle erklärt: „Vinny wusste, dass seine Vergangenheit ihn zu Fall bringen würde. Er dachte, egal, was er tat und wie schnell er es tat, die Vergangenheit würde schon da sein und auf ihn warten.“

Mindestens genauso wichtig für die Geschichte sind die Frauen, die zurückbleiben. Helen, Arthurs Frau, fasst es Dan Sharp gegenüber so zusammen: „Die Wahrheit ist, dass Frauen wichtiger füreinander sind. Wichtiger als die Männer, und das werden sie nicht hören wollen, weil es in diesem Buch genau wie in Ihren anderen Büchern um Männer geht oder?“.  
Helen möchte ihren Verlust gemeinsam mit Jenny, Bills Frau, verarbeiten: „Ich glaube, dass Menschen so etwas miteinander teilen müssen. Wenn so etwas Schlimmes passiert, kann man es nicht allein durchstehen.“ Aber Jenny distanziert sich trotz des gemeinsamen Leids von Helen. Mit Michelle scheint Helen sich besser zu verstehen. 

Nach und nach wird offensichtlicher, welche Päckchen die Frauen zu tragen haben, welche erschütternden Geheimnisse sie zu verarbeiten haben und warum sich die Frauen verhalten, wie sie sich verhalten. Die Autorin zeigt anschaulich, wie unterschiedlich Menschen auf das vermeintlich selbe Ereignis, auf den großen Verlust reagieren. Gleichzeitig wird klar, dass jede der klar und überzeugend ausgearbeiteten, tiefgründigen Figuren ihre eigene Wahrheit hat und die ganze Lektüre über musste ich rätseln, wie nun alles tatsächlich zusammenhängt. 

 

Wahrheit und Wirklichkeit haben mehrere Seiten. Emma Stonex arbeitet den Fall der verschwunden Leuchtturmwärter detailliert aus verschiedenen Perspektiven auf, streift dabei unterschiedliches Genres. Am Ende entwirrt sie - zumindest weitgehend- ein komplexes Geflecht und stellt sechs sehr interessante Figuren und ihre Situation eingehend dar. Imponiert hat mir die Atmosphäre des Romans. Beim Lesen wird fast spürbar deutlich, vor welche Herausforderungen einen das Leben auf dem Leuchtturm stellt, wie dabei manchmal die Grenzen zwischen Realität und Einbildung verschwimmen und welche Auswirkungen dieses Leben auf Beziehungen haben kann. Auch wenn das Ende für manchen Geschmack möglicherweise nicht ganz zur Stimmung und Aussage des Romans passen mag, hat mich der vielschichtige, intensive, dramatische und spannende Roman über Verlust  gefesselt und nachhaltig beeindruckt. Ich würde gerne mehr von der Autorin lesen.