Rezension

Dystopie: Fulminanter Auftakt einer Trilogie

Die Verratenen
von Ursula Poznanski

Bewertet mit 5 Sternen

Die Welt hat sich verändert: Nach der "langen Nacht" ist das Klima eisig; nur wenige Menschen konnten überleben. Ein großer Teil von ihnen lebt in einer künstlichen Umwelt, den "Sphären" - sie sind die Lieblinge des Schicksals, denn sie haben auf einen Warner gehört und Vorsorge getroffen. Viele Jahre später leben ihre Nachkommen in einer Gesellschaft, die vollkommen durchstrukturiert ist. Alles hat seinen Platz, und selbst der Platz der Menschen ist geregelt. So werden die Studenten in der Eliteakademie ständig beurteilt und nach ihren Leistungen in eine Reihung gebracht. Auf Platz 7 steht Eleria, benannt nach Eleonore von Aquitanien und Ariadne aus der griechischen Sage. Sie wird ihren Namensvorbildern gerecht: Sie studiert Rhetorik, nonverbale Signale und Überzeugungstechniken. Und sie sieht einer großen Zukunft entgegen - vielleicht als Sprecherin eines Führers.

Doch diese Gewissheit wird erschüttert, als Ria zufällig ein Gespräch belauscht: Es gibt eine Verschwörung, die die Grundfesten des Sphärenbundes gefährdet. Sechs Studenten sollen Teil davon sein, und sie sollen ohne Umstände getötet werden. Und sie ist eine von ihnen! Ria weiß genau, dass das nicht zutrifft. Hier muss ein tödlicher Irrtum vorliegen! Doch das anzusprechen würde ihren Tod nur beschleunigen. Und so bleibt nur noch die Flucht für sie und die fünf anderen. Flucht aber bedeutet: Weg aus den schützenden Sphären, Gefahr durch die bittere Kälte, durch Wölfe und andere Raubtiere und nicht zuletzt auch durch die Außenbewohner, die sogenannten "Prims". Die überfallen immer wieder die Wachen der Sphären und die Lebensmitteltransporte, und sie sind den "Lieblingen" gegenüber feindlich eingestellt.

Zwei Welten prallen aufeinander. Und für Ria geht alle Gewissheit verloren: Sie, die überzeugte Anhängerin ihrer Gesellschaft, muss erleben, dass sie ungehört zum Tod verurteilt wird, und durch das Aufeinandertreffen mit den Außenbewohnern erfährt sie Wahrheiten über das System, die sie sich nicht vorstellen kann und nicht glauben möchte.

Diese Dystopie hat mich mitgerissen. Sie beschreibt eine konsequent durchdachte Welt, in der zwei Bevölkerungsgruppen unter sehr unterschiedlichen Bedingungen leben. Poznanski entwickelt Charaktere aus Fleisch und Blut, die nicht nur eindimensional sind. Die Handlung bietet viel an Aktion. Noch wichtiger aber sind die Gedanken von Ria, aus deren Warte die Geschichte erzählt wird. Ria ist geschult in Beobachtung und in der Deutung. Sie hat gelernt, andere zu überzeugen - oder sollen wir es manipulieren nennen? Hier gibt es kein einseitiges Gut und Böse. Und so sehr ich mich als Leser mit Ria identifizieren kann: Sie ist geprägt durch ihre Erziehung und ihre Umwelt, und manches kann sie überhaupt nicht nachvollziehen. Dieser psychologische Anteil  ist für mich der stärkste Leseanreiz. Daher genieße ich auch die Passagen, in denen Ria überlegt, zweifelt und grübelt. Die innere Handlung ist hier noch wichtiger als äußere action. Für diese einfühlsamen Beschreibungen mit psychologischem Hintergrund ein höchstes Lob an die Autorin Ursula Poznanski.