Rezension

Es war einmal ... ein fesselnder Albtraum

Das wirkliche Leben - Adeline Dieudonné

Das wirkliche Leben
von Adeline Dieudonné

Ein zehnjährigen Mädchens, das mit Vater, Mutter und kleinem Bruder in einer Reihenhaussiedlung lebt. Doch die vermeintlich heile Welt gleicht in Wahrheit einem Horrorfilm ... Adeline Dieudonné führt ihre Leser in ihrem Debütroman "Das wirkliche Leben" in ein modernes Märchen mit der Dimension eines Albtraums.

Es war einmal ein Buch, aus dem von fern und nah Stephen King mit seinen Romanen und deren Verfilmungen grüßt. Das muss wissen, wer "Das wirkliche Leben" von Adeline Dieudonné liest, damit er weiß, worauf er sich einlässt. Das Buch stand immerhin monatelang auf der französischen Bestsellerliste, wurde mit mehreren Literaturprei­sen ausgezeichnet und in 20 Sprachen übersetzt.

 

Die 38 Jahre alte belgische Autorin, die eigentlich Schauspielerin ist, hätte das wirkliche Leben als Idyll schildern können. Im schönsten Haus einer Siedlung am Waldrand leben ein zehnjähriges Mädchen, ihr jüngerer Bruder und ihre Eltern. Doch wir befinden uns in einem modernen Märchen; mit allen Brutalitäten und Monstern, die sich Gebrüder Grimm der Gegenwart nicht schöner hätten ausdenken können.

 

Das Mädchen trägt zwar kein rotes Käppchen, verkörpert dennoch das Gute. Der Vater, in der Doppelrolle als (böser) Jäger und (noch böserer) Wolf, übertrifft jede bitterböse Stiefmutter um Längen. Die Mutter ist „wie eine Amöbe“, also nur hilflose Staffage (wie mancher Märchenkönig), die Rolle des Bruders wird ambivalent angelegt, sodass lange unklar bleibt, ob aus ihm Gretels Hänsel oder doch eher Rumpelstilzchen wird. Daneben gibt es eine gute Fee, einen prinzeligen Helfer (zeitgemäß in Muskelpaketen statt Rüstung gewandet) und natürlich ein wenig Zauberei (getarnt als moderne Naturwissenschaft).

 

So viel zum Setting. Unsere Heldin leidet in ihrer Familienhölle. Da sie weder Schneewittchen noch Dornröschen ist, schläft sie nicht, sondern flüchtet in eine Art innere Emigration. Sie lebt in ihrem Albtraummärchen und sucht, daher der Buchtitel, ihr wirkliches Leben. Und es gelingt ihr tatsächlich – vorsicht Spoiler! – sich binnen vier Jahren, also der Laufzeit des Buches, zu befreien.

 

Doch der Weg dorthin ist weit und mühsam: Das Leben der Familie ist geprägt von brutaler Gewalt. Der Alltag ist böseböseböse, das Mädchen dafür gutgutgut. Trotz dieses simplen Rahmens gelingt es Dieudonné eine unglaublich fesselnde Geschichte zu erzählen und riesige Spannung aufzubauen. Schleichend erst, doch schnell unübersehbar breiten sich düstere Schatten aus. Von Seite zu Seite wird die Lage der Familie immer bedrohlicher. Jedem der atemlosen Leser ist klar: Das kann eigentlich nur böse enden.

 

Tut es auch! Allerdings im strengen Rahmen eines Märchens. Daher dürfte mancher das Ende frühzeitig ahnen:  Böse endet es nur für die Bösen. Wenn die Guten nicht gestorben sind, dann leben sie bestimmt noch heute (und in Zukunft).

 

PS: Konstruktion, Tonfall und Bilder des Buches schreien geradezu nach Verfilmung. Die  dürfte nicht allzu lange auf sich warten lassen.