Rezension

Packend-sozialkritischer Roman über die virtuelle Welt der Influencer

Die Kinder sind Könige -

Die Kinder sind Könige
von Delphine de Vigan

Bewertet mit 5 Sternen

Aktuell, spannend und lesenswert!

In der heutigen Generation „über 50“ ist man in die moderne Medienwelt einigermaßen hineingewachsen. Whattsapp, E-mails, Smartphone – all das wird beherrscht. Ja, man hat auch ein Facebook oder Instagram Account, um sich über aktuelle Buchempfehlungen zu informieren oder die Urlaubsbilder der Freunde zeitnah zu sehen. Man weiß auch, dass es Influencer und Follower gibt. Und nun kommt Delphine de Vigan und zeigt uns einen ganz neuen, beängstigenden Bereich dieser virtuellen Welt, einen, in dem Eltern ihre Kinder ausstellen, mit ihnen werben, sie instrumentalisieren und ihnen damit unbewusst die Privatsphäre rauben. Wofür? Für mehr Klicks, mehr Follower und natürlich mehr Geld. Unfassbar und aufrüttelnd!

Bereits von der ersten Seite an wird man als Leser in die Geschichte eingesogen. Die 6-jährige Kimmy Diore hat mit den Nachbarskindern Verstecken gespielt und ist anschließend nicht mehr auffindbar. Die Polizei, allen voran Ermittlerin Clara, recherchiert im Umfeld der Familie, wo Überraschendes zutage tritt: Die Eltern Melanie und Bruno betreiben seit Jahren den Internetkanal „happy recre“, über den sie ihr Leben in Stories, Clips und Videos inszenieren, die sie über verschiedene Kanäle im Internet teilen. Im Mittelpunkt steht dabei ihre niedliche Tochter Kimmy, doch auch der zwei Jahre ältere Sohn Sammy ist fester Bestandteil des Formats. Mutter Melanie hat bei der Ausarbeitung ihres Geschäftsmodells durchaus Geschick bewiesen. Die Zahl ihrer Follower geht mittlerweile in Millionenhöhe. Dadurch konnte sie viele lukrative Sponsorenverträge mit Spielzeug-, Nahrungsmittel- und Bekleidungsherstellern abschließen. Vater Bruno hat seinen Job in der IT Branche aufgegeben, um seine Arbeitskraft vollkommen in den Dienst von „happy recre“ stecken zu können. Die Familie generiert aus diesem Format ein immenses Einkommen. Die Kinder wachsen in Überfluss und Konsum auf. Melanie wird dabei nicht müde, neue Challenges zu erfinden, bei denen übermäßige Fastfood-Bestellungen ins Haus kommen oder Einkaufswagen mit sinnlosen, aber z.B. konsequent einfarbigen Produkten gefüllt werden – Hauptsache, die Label sind gut sichtbar und alles ist vor der Kamera unterhaltsam inszeniert. Nach und nach erschließt sich für den Leser die völlig befremdliche virtuelle Welt von „happy recre“. Mutter Melanie ist emotional völlig abhängig von den Likes, den Herzen, der Liebe, die ihr von Seiten der Follower-Gemeinde entgegenschlagen.

Doch man verurteilt Melanie nur bedingt. De Vigan wendet sich ihren Figuren sehr intensiv zu. So beschreibt sie auch Melanies Geschichte, ihre Suche nach medialer Aufmerksamkeit schon in jüngeren Jahren. Man bekommt einen tiefen Einblick in die Psyche dieser Frau, die sich schon immer danach sehnte, berühmt zu sein, die nun zwanghaft ihre innere Leere dadurch aufzufüllen sucht, indem sie ihr familiäres Glück zur Schau stellt und öffentlich macht. Die Autorin nähert sich jeder Figur auf höchst empathische Weise. Sie zeigt Ambivalenzen, seelische Narben und innere Konflikte überaus nachvollziehbar auf. An Melanies Liebe zu ihren Kindern bestehen niemals Zweifel, auch wenn man ihr Verhalten als zwanghaft und übergriffig empfinden muss.

Ebenso nah kommt man Ermittlerin Clara, einer Frau, die völlig anders aufgewachsen ist als Melanie, die sich bewusst gegen Kinder entschieden hat und sich sehr stark auf ihren Beruf fokussiert. Clara hat noch nie in einem Fall um ein vermisstes Kind recherchieren müssen. Sie schaut sich sukzessive alle Videos, Stories und Posts von „happy recre“ an, wertet Protokolle und Fakten aus. Sie kommt schon früh zu dem Schluss, dass „Kimmy Diore in einer Parallelwelt aufgewachsen ist, in einer ganz und gar künstlichen Welt, einer virtuellen Welt, die sie, Clara, nicht kannte. Diese Welt gehorchte Regeln, über die sie nicht das Geringste wusste.“ (S. 57)
Die Handlung entwickelt sich wie in einem spannenden Kriminalroman. Aus verschiedenen Perspektiven wird das Bild für den Leser immer kompletter und anschaulicher. Dabei wird besonderer Wert auf eine umfassend glaubwürdige Entwicklung gelegt, hier ist nichts nur schwarz oder nur weiß. Das macht den Plot so faszinierend. Mit jedem Tag, den das Mädchen länger vermisst wird, steigen die Befürchtungen, dass es kein gutes Ende mit Kimmy nehmen wird, zumal wirtschaftlicher Erfolg auch immer Neider hat und angesichts des Vermögens der Familie eine grausame Entführung möglich ist. Die Wahrscheinlichkeit eines Gewaltverbrechens nimmt von Tag zu Tag zu… Dieser auf Familie und Polizei lastende Druck wird sehr authentisch transportiert. Die Autorin beschränkt sich in diesem Roman jedoch nicht nur auf die Auflösung des Kriminalfalles, sondern wirft auch noch einen bedrückenden Blick in die Zukunft der Protagonisten: Was macht eine medial hergestellte Öffentlichkeit mit der Kinderseele, wie wirkt sich das Erlebte im Erwachsenenalter aus?

Delphine de Vigan hat bereits in zahlreichen Romanen gezeigt, dass sie sich relevanten gesellschaftlichen Themen auf sensible Weise nähern kann. Das beweist sie auch hier auf eindrückliche Weise. Sie zeigt die verschiedenen Positionen ohne laute Anklage auf, gibt damit dem Leser die Chance, sich selbst ein Bild zu machen. Sie belegt die tückische Dynamik der sozialen Medien, beweist, wie schnell ein labiler Mensch in den Strudel dieser Scheinwelt geraten kann, der Abhängigkeit und Suchtverhalten nach sich zieht. Der Mutter geraten die Bedürfnisse ihrer Kinder dabei vollkommen aus dem Gesichtsfeld. Die Autorin schildert sachlich und bezieht gerade dadurch Stellung. Beim Leser halten sich Faszination und Unglaube die Waage, zunächst sicher geglaubte Annahmen werden widerlegt.

„Die Kinder sind Könige“ ist ein überaus packender, vielschichtiger und gesellschaftskritischer Roman, der von Doris Heinemann hervorragend aus dem Französischen übersetzt wurde. Hat man erst einmal begonnen, kann man ihn kaum aus der Hand legen. Hier stimmt einfach alles: Plot, Figuren, Struktur und Schreibstil. Große Lese-Empfehlung!