Rezension

Damals, als die Truman Show noch irgendwie dystopisch war..

Die Kinder sind Könige -

Die Kinder sind Könige
von Delphine de Vigan

Bewertet mit 3.5 Sternen

„Es ging nicht darum zu wissen, wer Mélanie Claux war. Es ging darum zu wissen, was diese Epoche tolerierte, ermutigte und glorifizierte. Und darum zuzugeben, dass Leute, die sich, wie sie selbst, in dieser Epoche nicht mehr ohne Erstaunen oder Empörung bewegen konnten, unangepasst, gestrig, ja reaktionäre waren.“ (S. 202)

Die Kinder sind Könige. Sie sind schützenswert, kostbar und eine Quelle der Inspiration. So ließe sich der Titel interpretieren. Aber Kinder sind auch bewundernswert. Sie stecken an mit ihrer Unbedarftheit, ihrer Neugier und ihrer Lebensfreude. Ja sie verleiten geradezu dazu, dass man sie auf ein Podest hebt und zur Schau stellt. Sich mit ihnen schmückt. Wir leben in einer Zeit, in der nichts einfacher ist, als sein Privatleben in die Öffentlichkeit zu tragen. Ganz gleich wie uninteressant, wie wenig talentiert man ist. Es bedarf einer Kamera und einer Internetverbindung, um sich zu inszenieren und auf sich aufmerksam zu machen. Beides also Hürden, die so gut wie jeder hier lebende lächerlich leicht überwinden kann.
Was aber, wenn das Privatleben, das es doch eigentlich unbedingt zu schützen gilt, von einem anderen Raum überlagert wird, in welchen wir uns freiwillig und bereitwillig begeben und die Grenzen immer weiter verschwimmen?
Das könnte sich leicht wie der Aufhänger einer Dystopie lesen, wäre es nicht längst Alltag.

Delphine de Vigan nimmt sich in ihrem 2022 erschienen Werk eben dieser Grenzverschiebung an und geht sehr unversöhnlich, nicht aber gerade subtil unserer Epoche an den Kragen.
Sie beschreibt dabei ein Extremszenario. Eines, in dem Kinder instrumentalisiert und als Werbepüppchen versklavt werden. Bereitwillig von den eigenen Eltern, die ihr Leben auf Plattformen dokumentieren und mit den größtmöglich effektiven Mitteln an eine kaufwillige Zuschauerschaft tragen. Das Wort „Extremszenario“ bezieht sich hier allerdings nicht auf eine ausgeklügelte und überspitzte Idee der Autorin, sondern einfach auf eine Erhöhung unseres tatsächlichen digitalen Alltags, denn es gibt diese Eltern, die ihre vermeintlich heile Familie dem Internet präsentieren, ihre Kinder permanent filmen und suggerieren, sie wuchsen in einer rosaroten Zuckerwattenwelt des Konsum auf, seien überglücklich damit und ließen sich gerne immerzu beim Aufwachsen begleiten, zuschauen und bewerten.

Dabei zeichnet die Autrin hier zwei Gegenentwürfe. Auf der einen Seite Mélanie, die sich ein Videotagebuchimperium mit ihrer Familie erschaffen hat und deren Tochter verschwindet.
Auf der anderen Seite ist da Clara, eine Ermittlerin, die zurückgezogen und allein lebt, ihre Privatsphäre schätzt und das Internet eher zu professionellen Zwecken nutzt, sich nicht in dieser Welt zerstreut und versucht, das vermisste Mädchen ausfindig zu machen. Sie blickt empört auf dieses Leben des Scheins, das sich die Filmerfamilie geschaffen hat und dekonstruiert die Blase und die Illusion, in der all das Kreierte stattfindet.

Anfangs hatte ich das Gefühl, Clara, die Ermittlerin, repräsentiere den Leser, der auf dieses eigentlich nicht tolerierbare Konstrukt blickt, aber dadurch, dass sie sich freiwillig fast völlig abseits der digitalen Pfade bewegt und wir mittlerweile in einer Welt leben, die vieles hinnehmt und nach Sensation und Zerstreuung giert, ist sie vermutlich eher der mit erhobenem Zeigefinger in der Ecke stehende Pädagoge, der uns den Spiegel vorhält, aber auch sehr unversöhnlich dabei ist. Sie ist vermutlich eine der wenigen in unserem Zeitalter. Vielleicht ist sie Delphine de Vigan selber, die absolut übersättigt und reizüberflutet ist und voller Empörung auf unsere Gesellschaft blickt. Ganz und gar nicht zu Unrecht allerdings.

„Seit einiger Zeit hat sie das Gefühl, in unglaublicher Zurückgezogenheit in einem weltabgewandten Winkel zu leben, am Rande dieser mit künstlicher Liebe und echtem Hass gesättigten angeblichen sozialen Netze, am Rande dieses mit Selfies und lapidaren Sätzen vollgestopften World Wide Web der Illusionen, am Rande von allem, was sich mit Schallgeschwindigkeit bewegt.“ (S. 290)

Dieses Gefühl der Übersättigung kann ich durchaus sehr gut verstehen, allerding las sich das Buch für mich mehr wie eine Abrechnung mit unserer Gesellschaft und weniger wie eine Geschichte oder ein umfassendes Abbild unseres technologischen und konsumträchtigen Lebens. Für meinen Geschmack fehlte dafür einfach die Subtilität und der Subtext. Was für mich eine Verbindung schuf war die Tatsache, dass ich vieles, was hier kritisiert wurde, sehr gut nachvollziehen und mitfühlen konnte, der Schreibstil und die Übersetzung gewohnt stark waren und man die Autorin deutlich wieder erkennt. Die Geschichte selber aber empfand ich als zu simpel und zu wenig differenziert.