Rezension

Wenn Kinder-Influencer das Familieneinkommen verdienen

Die Kinder sind Könige -

Die Kinder sind Könige
von Delphine de Vigan

Bewertet mit 4.5 Sternen

Als junge Mutter zweier Kleinkinder erlebt Mélanie Delore eine depressive Phase, in der ihr therapeutische Begleitung sicher gutgetan hätte. Aufgewachsen ist sie zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit der Scripted Reality, die ihr bezahlte Teilnehmer ins Wohnzimmer liefern. Mélanie selbst war vor ihrer Ehe nicht laut und schrill genug, um selbst ein Casting zu gewinnen. Sie findet jedoch Befriedigung darin, in den noch jungen Sozialen Medien ihre unbestreitbar charmanten Kinder Kimmy (w) und Sammy (m) als Kinder-Influencer aufzubauen. Außenstehenden Zuschauern ihres erfolgreichen Video-Kanals wird schnell klar, dass kleine Kinder zwar mal für ein Video posen und sogar einen Rollentext dafür lernen würden. Da sie schon früh instinktiv Peinlichkeiten wahrnehmen, würden sie jedoch nicht freiwillig jedes Bild von sich und jede Gefühlsregung in Echtzeit in Sozialen Medien teilen – wenn man sie zuvor um ihre Einwilligung dafür bitten würde.

Aus dem eng getakteten Leben so genannter Markenbotschafter verschwindet eines Tages Kimmy, mitten heraus aus einem Versteckspiel mit mehreren anderen Kindern. Mit den Ermittlungen in dem spektakulären Entführungsfall wird die Kommissarin Clara betraut. Sie ist im gleichen Alter wie Mélanie, doch völlig anders sozialisiert und um das Jahr 2015 herum angeblich noch ahnungslos, dass in einigen Familien kindliche Markenbotschafter  das Familieneinkommen erarbeiten und die Eltern ganztags und hochprofessionell das Produktplacement organisieren. Juristisch scheint das Influencertum Minderjähriger bisher eine Grauzone zu sein, da es (in Frankreich?) als Hobby und nicht als Kinderarbeit gewertet wird. So dient das Verschwinden von Kimmy Delphine de Vigan dazu, die wirtschaftlichen Folgen zu skizzieren, die das Verschwinden des Kindes für die Delores haben könnte. Die Verknüpfung der Romanhandlung mit Fakten über bezahlte Produktplatzierung durch Kinderarbeit fand ich an dieser Stelle etwas zu aufdringlich pädagogisch. Auch die Parallelgesellschaft  der Ermittler wirkte auf mich wenig glaubwürdig, die angeblich nicht davon wussten, dass ein häufiger Berufswunsch von 12-jährigen inzwischen Beauty-Bloggerin ist. Manche Menschen kennen offenbar keine Kinder.

In einer sehr empathischen und glaubwürdigen Darstellung aller Beteiligten, besonders der Kinder, kommt es schließlich zu einer Lösung des Falls Kimmy. Ein Zeitsprung um 10 Jahre zeigt 2031 Mélanie und Clara mit Mitte 45, sowie Kimmy und Sammy als volljährige Erwachsene – in beiden Generationen eine wichtige und psychologisch hochinteressante Entwicklungsstufe mit der Chance zur Neuorientierung. Die Dokumentation, wo alle beteiligten Figuren 10 Jahre später stehen, hat auf mich ganz und gar nicht utopisch gewirkt. Delphine de Vigan hält ihren Lesern im Jahr 2 einer fatalen Pandemie den Spiegel vor, wohin die Nutzung Sozialer Medien unsere Gesellschaft gesteuert hat und wirft damit die Frage auf, ob es an diesem Punkt eine Umkehr geben könnte.

Hochaktuell, empathisch und psychologisch überzeugend, auch wenn die Figur der Mélanie mir etwas zu schlicht geraten ist.