Rezension

ABRECHNUNG...

Tote Mädchen lügen nicht - Jay Asher

Tote Mädchen lügen nicht
von Jay Asher

Bewertet mit 3.5 Sternen

Wichtige Thematik, doch waren die Reaktionen und Gedanken des nun toten Mädchens für mich nicht immer nachvollziehbar. Typisch amerikanisch?

Als Clay Jensen aus der Schule nach Hause kommt, findet er ein Päckchen mit Kassetten vor. Er legt die erste in einen alten Kassettenrekorder, drückt auf »Play« – und hört die Stimme von Hannah Baker. Hannah, seine ehemalige Mitschülerin. Hannah, für die er heimlich schwärmte. Hannah, die tot ist. Mit ihrer Stimme im Ohr wandert Clay durch die Nacht, und was er hört, lässt ihm den Atem stocken. Dreizehn Gründe haben zu ihrem Tod geführt, dreizehn Personen hatten ihren Anteil daran. Clay ist einer davon... (Verlagsbeschreibung)

Auf diesen Roman war ich schon lange neugierig, denn der Plot las sich ungemein spannend. Clay, ein jugendlicher Schüler, kommt nach Hause und findet dort einen an ihn adressierten Karton vor - ohne Absender. Neugierig öffnet er den Karton und entdeckt dort sieben Kassetten. Als er in die mit der Nummer 1 beschriftete Kassette hineinhört, erkennt er zu seinem Entsetzen die Stimme von Hannah Baker. Hannah war eine Mitschülerin von Clay, sein heimlicher Schwarm. Und sie hat sich vor einigen Tagen umgebracht.

Schnell wird deutlich, dass Hannah beschlossen hat abzurechnen. Abzurechnen mit denen, die auf irgendeine Art und Weise dazu beigetragen haben, dass Hannah heute nicht mehr lebt. Jede Kassettenseite ist einer Person gewidmet, und Hannah schildert ausführlich, welche Geschehnisse dazu geführt haben, dass diese Person auch auf der Liste gelandet ist. Die Kassetten sollen der Reihe nach an alle dreizehn Personen geschickt werden, die Teil der Liste sind - und Hannah hat dafür gesorgt, dass dies sicher auch geschehen wird. 

Clay ist erschüttert. Was hat er mit dem Tod von Hannah zu tun, was hat er sich zuschulden kommen lassen? Während er Hannahs Stimme lauscht und darauf wartet, bis endlich sein Name fällt, erfährt er immer mehr über das Leben und Denken seiner Mitschülerin - und über das, was ihr widerfahren ist. Verwirrt, bestürzt, verängstigt läuft er mit Kopfhörern durch die Nacht, stets gespannt darauf, endlich zu erfahren, was er für eine Rolle spielt, aber auch erschüttert darüber, was er von denen erfährt, die mit ihm auf Hannahs Liste stehen...

Bis zu dem Zeitpunkt, an dem deutlich wird, was Clay mit alldem zu tun hat, vergehen etwa zwei Drittel des Romans - er ist also nicht der Letzte auf der Liste. Bis dahin steigt die innere Spannung kontinuierlich, und beim Lesen ist man ebenso angespannt wie Clay, fiebert mit ihm mit, der doch so sympathisch wirkt. Bis dahin war es auch ein 5-Sterne-Buch für mich - und danach verlor es mich doch immer mehr.

Das lag v.a. an Hannah. Ja, die Dinge, die sie schlidert, sind teilweise schlimm, in der Summe auf jeden Fall, und die angerissenen Themen sind wichtige und nachdenkenswerte, unbedingt. Aber Hannah und ihre Gedanken und Reaktionen, v.a. gegen Ende, waren für mich irgendwann einfach kaum noch nachvollziehbar, und nicht jede der Personen, die hier auf den Kassetten auftauchen, hat gezielt gegen Hannah agiert, auch wenn viele Steinchen zuletzt ein ganzes Gebirge ergeben. 

Das Gefühl, nicht dazuzugehören, ausgegrenzt zu werden, Spielball der Gerüchte zu sein, sich der zugeschriebenen Rolle nicht beugen zu wollen, das kennen sicher viele aus ihrer Jugendzeit. Hannah aber war ein verschlossenes Mädchen, das sich niemandem anvertraute, über Andeutungen nicht hinausging und dann enttäuscht war, dass niemand eingriff. Sicher hätte nicht jeder geholfen, aber es hätte Menschen gegeben, die genau das versucht hätten - doch sie bekamen die Chance dazu nicht. Denn Hannah beschloss, ihrem Leben ein Ende zu setzen, weil sie so einfach nicht mehr weiterleben wollte. 

Eine u.U. gefährliche Botschaft für die Leser der eigentlichen Zielgruppe. Jugendliche. Hätte es keinen anderen Weg gegeben? Ja, der Roman mag sensibilisieren für Themen wie Ausgrenzung, Mobbing, Stalking, Zuschreibungen - aber er mündet in einem Desaster, das hier als einziger Ausweg aufgezeigt wird. Hannahs Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und Depression - ihre große Einsamkeit und die Abwärtsspirale, die sie selbst zuletzt noch beschleunigte, eine krasse Entwicklung.Auch wenn es solche Schicksale gibt - als Roman mit diesem einzigen Ausweg erscheint mir dies doch auch bedenklich.

Es wundert mich nicht, dass dieser so geschickt konzipierte Roman - abwechselnd beobachtet man hier den verstörten Clay und lauscht der Stimme von Hannah - zuletzt auch verfilmt wurde. Dadurch erreicht die Geschichte naturgemäß noch viel mehr Jugendliche, was meine Bedenken keineswegs verringert. Und mit meiner Befürchtung bin ich jedenfalls wohl nicht allein. Der Spiegel beispielsweise schreibt zu der bei Netflix ausgestrahlten Serie: "Für Kritik sorgt vor allem die schonungslose Darstellung eines Suizids: Die Szene verherrliche eine solche Verzweiflungstat, protestieren Psychologen, und könnte zu Nachahmungstaten führen." 

Die Thematisierung düsterer Realitäten - wie gesagt: ein wichtiger Beitrag, um auf diese Missstände aufmerksam zu machen. Aber die Ausweglosigkeit und der Suizid als einzige Möglichkeit, die für das Mädchen Hannah unerträgliche Situation zu beenden, setzt eben auch gefährliche Signale.

 

© Parden