Rezension

Das Verschwinden eines Thrillers

Das Verschwinden der Erde
von Julia Phillips

Bewertet mit 5 Sternen

Thriller lese ich eher selten und auch nur sehr ausgewählt. Dann, wenn sie sich in erster Linie an ein weibliches Publikum richten und die Aufmachung vermuten lässt, dass es sich mehr um ein „Wer ist der Mörder?“-Buch handelt und keines, in dem über viele Seiten hinweg die Verstümmlungen einer Leiche beschrieben werden. Das Cover von „Das Verschwinden der Erde“ und die Werbung des Verlags, in der dieses Buch als „Literarischer Thriller“ angekündigt wurde, hat mich sehr angesprochen. Mit solchen Genre-Cross-Overs kann man mich immer locken.

Der Inhalt des Buchs hat mich nicht enttäuscht, dafür aber sehr überrascht. 

Inhalt:

Auf der russischen Halbinsel Kamtschatka verschwinden die beiden Schwestern Aljona und Sofija spurlos. Die ganze Bevölkerung hält den Atem an. Suchtrupps durchkämmen die Stadt und die ratlosen Ermittler verfolgen wüste Theorien. Die einzigen Zeugin behauptet die Mädchen in einem blank geputzten, schwarzen SUV gesehen zu haben. Ihr wird wenig Glauben geschenkt.

Das ist die Rahmenhandlung des Buchs In den darauffolgenden Kapiteln wird jeweils die Geschichte einer Frau erzählt, die oft nur sehr lose mit den verschwundenen Schwestern in Verbindung steht. Die Kapitel sind voneinander unabhängig. Sie klingen wie  Kurzgeschichten mit eigenem Spannungsbogen und eigenem Konflikt. Politische Themen werden dabei angerissen. Aber auch Liebe, Trauer, Familienkonflikte. Übergeordnet ist meistens die Unterdrückung der Frau durch eine patriarchale Gesellschaft.

Meine Meinung: 

„Das Verschwinden der Erde“ ist ein komisches Buch. Komisch, aber großartig! Ich habe einen solchen Roman noch nie gelesen. Er war zwar sehr spannend, aber einen Thriller würde ich ihn nicht nennen. Ich würde das Buch als ein Mosaik bezeichnen, das sich einen Kriminalfall zu Nutzen macht und dann in Splitterfragmenten die Gesellschaft beleuchtet, in der sich dieser zugetragen hat. 

Der Schreibstil der Autorin hat mir außerordentlich gut gefallen. Sehr poetisch und atmosphärisch. Obwohl man die Figuren nur über kurze Zeitabschnitte begleitet, begreift man sie und kann mit ihnen mitfiebern. Julia Philipps baut ihre Kapitel so auf, dass die jeweilige Geschichte immer genau dann endet, wenn die Spannung auf ihrem Höhepunkt ankommt. Man bleibt jedes Mal mit einem Cliffhanger zurück. Wenn man Glück hat, erhält man in einem Nebensatz der folgenden Kapitel die Auflösung, die man sich im vorherigen so gewünscht hat. Die Kapitel sind, wie bereits erwähnt, spannend, aber auch schwermütig. Die Frauen in den Geschichten haben es nicht leicht.

Man merkt, dass die Autorin sich intensiv mit Russland und vor allem mit der Region Kamtschatka auseinandergesetzt hat. Da ich selbst absolut kein Vorwissen besitze, kann ich nicht einordnen, inwieweit ihre Darstellung authentisch ist. Als Amerikanerin geht Julia Philipps allerdings für mein Empfinden sehr hart mit den Russen ins Gericht.

Das Ende der Geschichte hat mir in seiner Vielschichtigkeit außerordentlich gut gefallen und mich auch ein bisschen sprachlos gemacht. Ich hätte nicht gedacht, dass die Geschichte auf diese Weise aufgelöst wird. 

An dieser Stelle möchte ich aber auch eine Warnung aussprechen. „Das Verschwinden der Erde“ ist absolut lesenswert und mein erstes Lieblingsbuch 2021. Ich kann mir allerdings vorstellen, dass es Leser*innen geben wird, die enttäuscht sein könnten. Gerade solche, die regelmäßig und gerne herkömmliche Thriller lesen. Man bekommt hier nämlich etwas ganz, ganz anderes. Wenn man sich allerdings auf diese Art des Erzählens einlassen kann, dann eröffnet das „Verschwinden der Erde“ beim Lesen neue kulturelle und menschliche Perspektiven.

Fazit:

Ein sprachlich schönes und inhaltlich außergewöhnliches Buch, das sich aus individuellen Geschichten zusammensetzt, die um einen Kriminalfall konvergieren. Eine große Leseempfehlung für all diejenigen, die sich gerne mit Kultur und Gesellschaft auseinandersetzen wollen.