Rezension

Gesellschaftsstudie im angedeuteten Gewand eines "literarischen Thrillers"

Das Verschwinden der Erde
von Julia Phillips

Gleich vorweg: Die Sache mit dem "literarischen Thriller" bringt The Los Angeles Review of Books als Zitat auf der Rückseite des Buches ins Spiel. Dadurch werden Erwartungen geschürt, die das Buch nicht erfüllen kann. Dafür kann es jedoch ganz ungeahnte und aus meiner Sicht viel interessantere Aspekte beleuchten.

Dieser Roman von einer amerikanischen Autorin, die zu Recherchezwecken viel Zeit in Russland verbrachte, seziert mit dem Blick einer Journalistin die post-sowjetische Gesellschaft Russlands weit weg vom cosmopilitischen Moskau. Auf der Halbinsel Kamtschatka teilen sich Ureinwohner und Russen das Land, das Leben, das Leid. Nicht nur in der ganz groben Rahmenhandlung um die Entführung zweier russischer Mädchen aus der größten Stadt der Halbinsel und das vorausgegangene Verschwinden einer jungen Ewetin sondern auch viele genau ausgeleuchtete Lebensszenen anderer Frauenfiguren dieser Bevölkerungsgruppen zeigen die Probleme dieser zerrütteten Gesellschaft auf. Vorrangig lernen die Leser*innen hier viel über die weiterhin bestehende Benachteiligung von Ureinwohnern im riesigen Vielvölkerstaat Russland, aber auch über die Emazipationsversuche von Frauen verschiedener Schichten. Auch die Gefahr, welche für Homosexuelle in diesem Land real existiert, findet hier Raum , um dargestellt zu werden. Etwas, was im Werk einer russischen Autorin sicherlich zumindest innerhalb Russlands niemals Erwähnung hätte finden dürfen. Phillips nutzt ihre Distanz, um ungeschönt zu erzählen. Andererseits gibt es in diesem überwiegend düsteren Gemälde dieser Zeit auch Lichtblicke. Beschreibungen von indigenen Traditionen, Zusammengehörigkeitsgefühle, Hoffnung.

Sprachlich seziert die Autorin messerschaft die Lebensumstände der in den Fokus genommenen Frauenfiguren, wie auch deren Emazipationsversuche. So spielt die Entführung der Mädchen bald im Plot kaum mehr eine Rolle, bewegt sich die Handlung weg davon und wird zu einer Randnotiz. Dies könnte Leser*innen, die einen Thriller erwarten, abschrecken und sogar langweilen. Wer jedoch genau an solchen Gesellschaftsstudien interessiert ist, kommt hier auf seine Kosten. Jedes (manchmal ein wenig zu fernes) Frauenschicksal webt sich jedoch letztendlich wieder irgendwie in die Rahmenhandlung ein, wird touchiert von dem Verschwinden der Mädchen. Und dann, ganz zum Schluss, kommt der Thriller. Da kommt die Spannung, die mich die letzten 40 Seiten gefühlt kaum hat atmen lassen.

Insgesamt handelt es sich hier um ein wirklich sehr gelungenes Porträt - des vornehmlich weiblichen Teils - einer angespannten Gesellschaft, die ihren Zusammenbruch noch nicht überwunden und den möglichen gemeinsamen Aufbau noch nicht ansatzweise vollendet hat. Im Real-Kommunismus gab es keine Gleichheit und auch danach existiert diese (noch) nicht.