Rezension

Herzerwärmend

Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek - David Whitehouse

Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek
von David Whitehouse

Bewertet mit 5 Sternen

Eine außergewöhnliche Story of Initiation.

Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek ist bereits jetzt, nach einmaligem Lesen, eines meiner Lieblingsbücher! Hinreißend, tiefsinnig, stark, emotional, das Thema Familie in all seinen Facetten beleuchtet. Familie kann ein Puzzle aus Menschen sein, das nicht miteinander verwandt ist. Denn, wie der Autor seine Protagonisten feststellen lässt: „Familie ist dort, wo es genug Liebe gibt.“ 
Nach dieser Definition hat der zwölfjährige Bobby Nusku also keine Familie (mehr). Er hat verdrängt, wie und warum seine Mutter ihn und seinen Vater verlassen hat, glaubt aber, dass sie wiederkommen und ihn finden wird. Schließlich hatte sie einmal mit Bobby gemeinsam geplant, vom Vater wegzulaufen. Doch Bobby fristet sein Leben im gemeinsamen Haus, hält akribisch Buch was vor sich geht, sammelt alles ein was seiner Mutter gehörte und was ihn an sie erinnert. Die einzige Kommunikation mit seinem Vater besteht aus Prügel, die er regelmäßig bezieht. Besonders, wenn sein Vater betrunken ist. Mit im Haus lebt die neue Freundin von Bruce Nusku, Cindy, die kein Interesse an Bobby hat, ihn als notwendiges Übel sieht. Also beschließt Bobby, sie ebenso als solches zu betrachten. Als Sunny, Bobbys neuer Freund, der unbedingt ein metallbewährter Cyborg werden will um Bobby in der Schule vor den Angriffen seiner Mitschüler zu schützen, bei einem seiner provozierten Unfälle schwer verletzt wird, zieht seine Mutter mit ihm weg. Bobby hat jedoch Glück, bleibt nicht lange alleine. Er lernt Rosa und ihre Mutter Val kennen, die zu ihm stehen und mit ihm im Bücherbus, den Val putzt, flüchten, als sich Bobbys gesamte aufgestaute Wut, Trauer und Angst eines Tages in der Schule entlädt. So beginnt ein Abenteuer, das Bobby zuvor niemals für möglich gehalten hätte und das ihn an das wieder glauben lässt, was er längst für sich als verloren bezeichnet hätte.
Valerie – Val – und Rosa Reed wohnen in einem Haus in Bobbys Straße, doch da Rosa auf die Schule für Kinder mit besonderen Bedürfnissen geht, haben sich die beiden zuvor nicht getroffen. Rosas Vater hat Frau und Tochter nach Rosas Geburt verlassen, da er für ein besonderes Mädchen wie Rosa nicht genügend Liebe aufbringen könne. So zumindest Vals Erklärung. Die beiden Kinder spielen zaghaft miteinander, doch als Bobbys Klassenkameraden kommen und Rosa im Matsch eingraben, versteckt sich Bobby feige. Er bringt Rosa jedoch zu ihrer Mutter und Rosa, die ihn als ihren Freund bezeichnet, besiegelt quasi die Adoption in ihre kleine Familie. Bobby ist fortan öfter bei Val und Rosa, doch schnell gibt es Gerede, was die erwachsene Frau wohl mit dem kleinen Jungen mache, und Bruce holt Bobby mit Gewalt nach Hause. Nach Bobbys Anschlag auf die drei Jungs, die Rosa gequält haben, kidnappt Val kurzerhand den aufs Abstellgleis geschobenen Bücherbus und flüchtet mit Tochter, Ziehsohn und Hund Bert aus der Stadt.
In einem Waldstück tarnen die drei den Bücherbus geschickt unter Bäumen und machen sich daran, ihre Fracht zu nutzen: Sie lesen viel, Bobby liest Rosa vor, sie erleben gemeinsam Abenteuer zwischen Buchdeckeln. Bert trifft eines Tages auf Joseph Sebastian Wiles, der sich jedoch nur als Joe zu erkennen gibt und sich als Tramp auf dem Weg nach Schottland ausgibt. Er bringt Bobby bei, wie man geschickt stiehlt, damit die Vier samt Bert genügend zu Essen und neue Kleidung haben. Bobby ist zunächst misstrauisch, da er merkt dass Val und Joe sich verlieben. Doch bald merkt er, dass Val auch noch genügend Liebe für ihn als Sohn übrig hat. In Joes schwachen Momenten ist Bobby der Stärkere, und umgekehrt. Val ist beeindruckt, dass Joe Rosa als ganz normales Mädchen sieht und behandelt, wofür ihn Rosa ebenfalls liebt. Als die „Familie“ allzu sehr auffällt, macht sich Joe zusammen mit ihnen auf den Weg zu dem verfallenen Haus in Schottland, das einen eigenen Zoo hatte, und das Ziel seiner Reise sein sollte. Schließlich kommen die Abenteurer auch dort an, inspizieren das Haus und auch den ehemaligen Zoo, von dem lediglich ein Ara übrig geblieben ist. Schließlich treffen sie auf den uralten Hausbesitzer, der ebenso wie Joe durch den Besuch von seiner Vergangenheit eingeholt wird. Da Joe ein entflohener Militär-Häftling ist, und der Baron, wie er sich nennt, auch das Kidnapping von Bobby durch Val im Fernsehen verfolgt hat, verrät er aus Hass und Bedauern die Gruppe.
Doch die Vier stellen unter Beweis, dass sie über den Sommer zu einer richtigen Familie geworden sind und tricksen die Polizei aus, während sie Sunny in Südengland besuchen. Sunny, dessen Gesicht nun einer unbeweglichen Maske gleicht, sieht sich mehr denn je als Cyborg, der für seinen Freund Bobby einiges auf sich nimmt. Jedoch bemerkt Bobby, dass Sunny auch auf seine Hilfe angewiesen ist. Aber genau dies macht Freundschaft aus: Geben und Nehmen.
Dem Autor gelingt es, indem er das Ende des Romans an den Anfang setzt, jede Menge Spannung aufzubauen. Man möchte das Buch in einem Rutsch durchlesen, bemerkt jedoch rasch, welche wundervollen, tief empfunden und philosophisch anmutenden Gedanken durch allzu hohes Lesetempo verschluckt werden würden. Ein großes Lob an die Übersetzerin Dorothee Merkel, die die Originalsätze des Autors so wunderbar ins Deutsche gebracht hat.
Hinreißend ist die Geschichte von seiner Reise mit der gestohlenen Bibliothek, die Bobby Sunny erzählt als sie sich wiedertreffen. Bildhaft, metaphorisch, aus tiefstem Herzen. Inspiriert durch die vielen Bücher, die er inzwischen gelesen hat und die fortan in seinem Leben eine wichtige Rolle spielen. In diesem Moment ergeben dann auch die vom Autor gewählten Kapitelüberschriften einen Sinn. Prinzessin, Königin, Höhlenmensch und Drache schließen den Kreis.
Ich werde das Buch direkt noch einmal lesen, mit Genuss und langsam. Damit ich all die weiteren Philosophien entdecke, die mir beim ersten Durchgang vielleicht noch entgangen sind. Fünf Sterne, Ausrufezeichen!