Rezension

Im Ferienhaus am See

Der Papierpalast
von Miranda Cowley Heller

Bewertet mit 5 Sternen

Das Cover des Debütromans “Der Papierpalast” von Miranda Cowley Heller, welches eine romantische Naturlandschaft zeigt, gefällt mir sehr gut, hinterlässt die Leser*innen jedoch in der Erwartung, eine weichgespülte Familiengeschichte serviert zu bekommen. Das ist aber hier nicht der Fall!
Elle Bishop, die 50-jährige Protagonistin, hat alle Sommer in dem Ferienhaus, genannt der Papierpalast in den Back Woods auf Cape Code verbracht. Jetzt treffen die Familie und ihr Jugendfreund hier bei einer Feier aufeinander. Elle befindet sich in einem Gefühlschaos, denn sie fühlt sich sehr stark zu Jonas, ihrem Kindheits- und Jugendfreund, hingezogen, hat Sex mit ihm, fühlt sich jedoch schuldig, denn sie liebt auch ihren Ehemann, mit dem sie 3 Kinder hat. Es gibt einen Haupterzählstrang, der, über eine Zeitspanne von 24 Stunden, minutiös ihren emotionalen Kampf darlegt. Sie muss mit ihren Gefühlen und der vorhandenen Realität klarkommen. Durch die Ich - Perspektive wird man in ihre Problemwelt hineingezogen, denn ihre Gedanken lassen ein differenziertes Charakterbild von ihr entstehen.
Durch Rückblenden werden ihre Erinnerungen an das Leben ihrer Großeltern und Eltern sehr mitreißend dargestellt. Ihre Vorfahren waren alle mehrfach verheiratet und hatten ebenfalls innere Beziehungskämpfe durchzustehen. Elle musste als Kind sexuellen Missbrauch erleben, dieses Thema, aber auch Mord, Unterdrückung und Unehrlichkeit haben bei Elle eine innere Identifikationslücke hinterlassen, denn sie wurde als Kind immer zwischen ihrer Sehnsucht nach Liebe und der Konfrontation mit ihren Ängsten hin- und hergerissen.
Dazu hat auch ihre selbstverliebte, sehr egoistische und wankelmütige Mutter beigetragen, sowie ihr Vater, der von seiner zweiten Ehefrau gegen seine Kinder aufgehetzt wurde.
Die Figuren sind alle authentisch und genau beschrieben. Der Schreibstil ist mit Metaphern durchsetzt und sehr anschaulich, so dass man sich an den Ferienort versetzt fühlt und nur so durch die Seiten fliegt.
Für wen und was wird sich Elle nun entscheiden? Für ein behütetes Leben an der Seite ihres Mannes oder für einen Neuanfang mit Jonas?
Sie steckt, so denke ich, in einer Midlife – Krise, die etliche Personen durchleben dürften. Deshalb ist Identifikation gut möglich.
Das Ende kommt unerwartet, lässt jedoch Raum für Interpretationen zu. Also passt es zu der Intention der Autorin, ein fesselndes und sehr berührendes Werk zu verfassen, das aufwühlt, erschüttert und sprachlos macht. Es ist also keine leichte Kost und hinterlässt Fragen. Das hat mir besonders gefallen. Daher eine ganz hervorragende Leseempfehlung.