Rezension

Der König der Verbrecher

Der Fall Moriarty
von Anthony Horowitz

Bewertet mit 4 Sternen

1891, Stunde Null nach dem Fall des Reichenbachfalls. Holmes ist tot, Moriarty ist tot und mir geht's auch schon ganz schlecht. Wie also soll es da einen Fall geben, der ein ganzes Buch umfasst? Das geht. Und auf die Spuren von Holmes und Moriarty begeben sich jetzt zwei Männer, von denen zumindest einer aus den Aufzeichnungen Watsons bekannt ist: Athelney Jones, Inspektor bei Scotland Yard. Ein scharfsinniger Bursche, der vom Besten gelernt hat, und von Watson immer unterschätzt wurde. Und Frederick Chase, dessen Geschichte ebenso an den Reichenbachfällen beginnt, wie sie für Holmes und Moriarty endete. Er, der Ich-Erzähler, stellt sich uns als Amerikaner vor, ein Mann Pinkertons, der großen Detektivfirma New York. Diese beiden Männer treffen sich und das ist nicht nur der Beginn einer wunderbaren Freundschaft, sondern eines Abenteuers, das uns rasant von der Schweiz mitnimmt nach London, in die finsteren Gassen, die uns aus Watsons Berichten so vertraut sind, zu Leuten, die uns ebenfalls bekannt vorkommen. Wir begegnen kurzzeitig Gregson und Lestrade und dürfen uns sogar dem Sohn von Abraham Lincoln vorstellen, doch vor allem ... vor allem dürfen wir einen Verbrecherkönig jagen, der das Zeug hat, selbst Moriarty wie einen Taubenzüchter dastehen zu lassen.

Jones und Chase sind ihm immer dicht auf den Fersen und doch dreht er ihnen nicht immer nur eine lange Nase, sondern mordet offenbar eiskalt weiter direkt unter ihren Schnüffelnasen. Seine Handlanger kennen keine Skrupel, schrecken nicht einmal davor zurück, Leuten vor aller Augen die Kehlen aufzuschlitzen oder sogar kleine Kinder zu entführen, um die Oberhand zu gewinnen. Selbst Folter setzen sie ein, und die Unterwelt Londons verharrt in Furcht vor ihnen; keiner traut sich, über sie zu sprechen, denn wer spricht, ist tot. Die beiden Jäger haben also anscheinend weniger als gar keine Chance, doch sie sind wild entschlossen - und für beide hängt nicht nur die Zukunft, sondern sogar ihr Leben von ihrem Erfolg ab.

(Wer das Buch schon gelesen hat, kann sich vorstellen, wie sehr ich mir gerade auf die Schulter klopfe, diese Zusammenfassung ohne Spoiler hingebracht und trotzdem alles Wichtige erwähnt zu haben. ;D)

Horowitz hat es wirklich gut hinbekommen, uns ins Ende des 19. Jahrhunderts mitzunehmen und die Athmosphäre der damaligen Zeit und auch Watsons ... ich meine Conan Doyles Stil nachzuahmen, ohne ihn gänzlich zu kopieren. Dass er gelegentlich uns bekannte Figuren und Fälle einschiebt, bringt für alte Holmesianer gelegentlich Aha-Effekte, doch er übertreibt es damit nicht, was gut ist. Sein Schreibstil ist tadellos und lässt sich gut lesen. Was mich ab und zu störte, war anfangs eine gewisse Zähigkeit, gerade als Jones und Chase noch in der Schweiz verweilen und ein paar unlogische Sachen: Warum wurde nicht schon früher versucht, sie umzubringen? Warum sollten sie das kleine Mädchen laufen lassen? Warum labern die Bösewichte immer stundenlang, bevor sie zu Taten schreiten? Warum wusste niemand, wie Moriarty aussieht, wenn doch eigentlich schon von Holmes aus bekannt war, dass er sogar an einer angesehenen Universität Mathematik gelehrt hat? Warum hat Chase nicht kontrolliert, wer da neben ihm in der Absteige wohnte?

Und ganz wichtig, obwohl ich das nicht wirklich in meine Bewertung einfließen lasse, aber erwähnen muss ich es: Das Lektorat ist nicht sonderlich gründlich gewesen. Davon kann man sich sogar schon in der Leseprobe überzeugen. Da sind einige Böcke geschossen worden, die von Rechts und Schonzeit wegen hätten leben müssen.

Fazit: Spannender und größtenteils authentischer Fall einer Holmesgeschichte ohne Holmes. Geht nicht? Geht doch!