Rezension

Exzellenter Thriller und psychologische Tour de Force

The other Girl - Maggie Mitchell

The other Girl
von Maggie Mitchell

Bewertet mit 5 Sternen

Dieses Romandebüt der amerikanischen Schriftstellerin Maggie Mitchell zählt meines Erachtens zu den besten Erstlingswerken dieses Jahres. Es wäre vermessen, das Buch lediglich in die Sparte Psychothriller einzuordnen, denn The Other Girl fällt nur allzu leicht aus diesem Rahmen, da es mit den heute so populären reißerisch-blutrünstigen Schockern nichts gemein hat. Es ist vielmehr ein leises Buch, dessen ungewöhnliche, äußerst spannende Story um zwei zentrale Fragen kreist: Was tun wir, wenn unser schlimmster Albtraum wahrgeworden ist, und wie machen wir weiter, wenn wir ihn überlebt haben?

Eine seltsame Entführung

Als die beiden Protagonistinnen des Romans, Lois Lonsdale und Carly May Smith, im Alter von 12 von einem Unbekannten entführt und zwei Monate lang in einer einsamen Waldhütte gefangen gehalten werden, betrachten sie es zunächst als großes Abenteuer. Carly May ist froh, ihrem lethargischen Vater und ihrer ehrgeizigen Stiefmutter zu entkommen, die sie von Schönheitswettbewerb zu Schönheitsbewerb zerrt, Lois leidet unter der Lieblosigkeit ihrer exzentrischen Eltern, die nur damit beschäftigt sind, das von ihnen geleitete exklusive Landhotel zu einem Erfolg zu machen. Und so hat der Entführer, der sich Zed nennt, denn auch leichtes Spiel, als er beiden Mädchen zeitversetzt anbietet, sie ein Stück mitzunehmen, sie dann jedoch in eine abgelegene Hütte bringt. Völlig unbedarft gehen die schüchterne, kluge Lois und die hübsche, eigensinnige Carly May zunächst mit der Situation um, zumal ihr gutaussehender Entführer die Mädchen wie Prinzessinnen behandelt und es ihnen an nichts fehlt. Doch aus der anfänglichen Erlebnislaune wird schnell Angst, denn die Mädchen werden aus Zeds Verhalten immer weniger schlau – sie rechnen täglich mit dem Schlimmsten, obwohl ihr Entführer sie weder belästigt noch gewalttätig ist. Nach einer großangelegten Suchaktion gelingt es der Polizei schließlich, die Mädchen unversehrt zu befreien, Zed endet mit einer Kugel im Kopf – ein Trauma für Lois und Carly May, die unfähig sind zu verstehen, was mit ihnen geschehen ist, warum gerade sie ausgewählt wurden und warum der Entführer sie entgegen aller Vermutungen gut behandelt hat.

Der Albtraum kehrt zurück…

Zwanzig Jahre später: Lois Lonsdale ist als Anglistikdozentin auf einem ländlichen College tätig, Carly May fristet ein einsames Dasein als erfolglose Schauspielerin. Trotz des gemeinsam Erlebten haben sie keinen Kontakt mehr zueinander. Was sie jedoch verbindet, ist die Tatsache, dass sie ihr traumatisches Erlebnis vor ihrer Umwelt geheimhalten und sich ein neues Leben aufgebaut haben, in dem kein Platz mehr für Vergangenes zu sein scheint. Das Trauma ihrer Kindheit lässt sie jedoch nicht los: Während Lois unter dem Pseudonym Lucy Ledger versucht, mit dem von ihr verfassten Thriller Der Wald so still das Geschehene aufzuarbeiten, ertränkt Carly May, die ihren Namen zwischenzeitlich in Chloe Savage geändert hat, ihre Ängste im Alkohol. Als Lois‘ Roman verfilmt werden soll, erhält Carly May eine der Hauptrollen. Doch nach Studium des Drehbuchs ist sie schockiert, und ihr ist sofort klar, das nur Lois hinter Lucy Ledger stecken kann.

Je näher die Dreharbeiten rücken, umso häufiger und vehementer kehren die Erinnerungen und Albträume bei Lois und Carly May zurück. Doch insbesondere Lois, deren Unbehagen und Zweifel angesichts des Filmprojektes täglich zunehmen, hat kaum Zeit zum Durchatmen, denn Sean McDougal, ein angsteinflößender, undurchsichtiger Student, behauptet, ihre wahre Identität zu kennen und sie der Öffentlichkeit preiszugeben, wenn sie ihm nicht alles über die damalige Entführung und insbesondere über Zed erzählt. Aber all das ist nichts gegen den Schock, den Lois und Carly May erleiden, als während der Dreharbeiten die beiden kleinen Schauspielerinnen, die sie darstellen sollen, plötzlich spurlos im Wald verschwinden…

Exzellenter Thriller und psychologische Tour de Force

Der Roman hat mich von der ersten bis zur letzten Seite absolut gefesselt. Dies liegt nicht nur an dem langsam ansteigenden Spannungsbogen, den Mitchell so klug konzipiert hat, sondern vor allem an den Psychogrammen, die die Autorin von ihren Protagonistinnen zeichnet. Der Leser kann sich zu keinem Zeitpunkt sicher sein, welchen Erinnerungsfragmenten er trauen kann, er weiß nie, was Lois und Carly May von ihrem Kindheitstrauma behalten, ausgelassen, dazugedichtet oder verdrängt haben. Mitchells außergewöhnlicher Schreibstil katapultiert uns in die verworrene Gedanken- und Erinnerungswelt ihrer Hauptfiguren und hält uns somit an, uns selbst ein Bild zu machen. Dies trifft ebenso auf Zed zu, der in keiner Weise dem Bild eines Entführers entspricht, wenn wir den Aussagen der Mädchen Glauben schenken können. Alles in allem ist Mitchell mit ihrem Debütroman eine psychologische Tour de Force gelungen, die auf eindrucksvolle Weise nicht nur zeigt, was tief im Verborgenen liegt, sondern auch wie Vergangenheit und Gegenwart trotz Verdrängung stets interagieren. Fazit: Sehr lesenswert!