Rezension

Grimms Märchen einmal anders

Cascadia -

Cascadia
von Julia Phillips

Bewertet mit 4 Sternen

Zwei Schwestern, die unterschiedlicher nicht sein könnten, leben seit jeher mit ihrer Mutter auf San Juan, einer Insel im Nordwesten der USA. Sam, die jüngere der beiden, erzählt von ihrem Plan, eines Tages den Grundbesitz mitsamt dem Haus für eine stattliche Summe zu veräußern. Dieser Traum hält sie aufrecht, aber noch sind die beiden Schwestern mit der Pflege ihrer sterbenskranken Mutter an die Insel gebunden. Die Arztrechnungen wiegen schwer, beider Einkommen reicht nicht aus, die Schulden häufen sich.

Eines Tages wird ein Bär gesichtet, der neben der Fähre, auf der Sam arbeitet, schwimmt. Nun, sowas soll hier vorkommen. Als dieser jedoch kurz danach direkt vor der Tür der Schwestern auftaucht, meldet Sam dies bei der zuständigen Behörde. Groß wie drei Mann soll er sein, er war keine drei Meter von ihnen entfernt. Während Sam sich von dem Tier bedroht fühlt und es schnellstens wieder loswerden will, ist Elena geradezu fasziniert von ihm. Ohne Furcht nähert sie sich ihm an, sieht den Bären als ihre Chance auf ein schöneres, helleres Leben.

Dem Geschehen vorangestellt ist das Märchen der Gebrüder Grimm „Schneeweißchen und Rosenrot“ in Kurzform - der Bär und der verzauberte Prinz und Schneeweißchen und Rosenrot. Was hat sich die Autorin dabei gedacht, was will sie damit ausdrücken? Wird zumindest eine der beiden Schwestern ihren Prinzen finden? Aber wie es die Grimm´schen Märchen so an sich haben, erzählen sie eher von Düsternis denn von Helligkeit.

Die prekäre Lebenssituation der Familie offenbart sich in seiner Gänze erst spät, auch wird das dramatische Verhältnis der Schwestern untereinander von Kindheit an sichtbar. Es ist eine tragische Familiengeschichte, von flüchtigen, nicht immer ernst gemeinten Begegnungen durchzogen, die daneben auch die Auswirkung der Coronapandemie anspricht, überlagert vom unzulänglichen Gesundheitssystem der USA.

Julia Phillips vielgelobten Debütroman „Das Verschwinden der Erde“ habe ich nicht gelesen, habe somit auch keine Vergleichsmöglichkeit. Ihr neuestes Werk „Cascadia“ ist – trotzdem gefühlt nicht viel passiert, alles eher so dahinplätschert – gut zu lesen, der Schreibstil eher nüchtern. Der Bär ist für die eine Sehnsuchtsfigur, er zieht sie wie magisch an. Hier fällt sie aus ihrer Rolle der toughen, dominanten, alle und alles bestimmenden jungen Frau. Die andere erkennt, dass ihre trügerischen Hoffnungen wie Seifenblasen zerplatzen. Es ist ein durchaus gesellschaftskritisches Buch, das so gesehen nichts Märchenhaftes an sich hat.