Rezension

spannende Charakerstudie

Cascadia -

Cascadia
von Julia Phillips

Bewertet mit 5 Sternen

Setting dieses Romans ist die Insel San Juan, Teil einer Inselgruppe im Nordwesten der USA zwischen Vancouver Island und dem Festland. Die Inselbewohner leben hauptsächlich vom Tourismus gut betuchter Amerikaner, die die außergewöhnliche Schönheit der unberührten Natur genießen wollen.

Wälder, unberührte Strände, Delphine, Wale, Weißkopfseeadler und Bären in freier Natur, all das hat dieser Landstrich zu bieten. In dieser abgeschiedenen, paradiesisch anmutenden Gegend sind die Schwestern Sam und Elena, beide Ende zwanzig, aufgewachsen. Im Gegensatz zu den Touristen und auch im Gegensatz zu vielen einheimischen Inselbewohnern sind sie in prekären Verhältnissen groß geworden, die Mutter allein erziehend, das Geld stets knapp.

Die erwachsenen Schwestern gehen schlecht bezahlten Jobs nach. Die Mutter ist unheilbar an Krebs erkrankt und die Kosten für ihre ärztliche Behandlung verschlingt den größten Teil des Einkommens. In diese Situation bricht ein Bär, augenscheinlich ein Grizzly, ein, der vor dem Haus der Familie auftaucht und zum Auslöser einer spannenden Geschichte wird.

Dieser Roman hat mir sehr gut gefallen. Die Schönheit der Flora und Fauna dieses Teils Nordamerikas wird eindrucksvoll beschrieben. Die Schilderung, wie die Geschwister in ihrer Kindheit unbeschwert durch die Natur streifen, hinterläßt beim Leser einen bleibenden Eindruck. Dass diese scheinbar heile Welt für die Geschwister alles andere als perfekt ist, wird nicht erst durch das Auftauchen des Bären deutlich, auch wenn die Ereignisse mit ihm richtig Fahrt aufnehmen.

Der Roman ist aus der Perspektive Sams geschrieben. Sie arbeitet als Servicekraft auf einer der vielen Fähren, die hauptsächlich Touristen von Insel zu Insel und zum Festland befördern. Auch hier wieder wunderschöne Beschreibungen der Fährfahrten, des Wassers, des Nebels, auftauchende Wale und Delphine sind keine Seltenheit.

Doch Sam kann das alles nicht wirklich wahrnehmen. Im Verlauf der Geschichte wird immer klarer, dass etwas mit ihr nicht stimmt. Sie läßt niemanden, außer ihrer Schwester, an sich heran. Sie bemerkt nicht, wenn Menschen ihr zugetan sind und es gut mit ihr meinen, empfindet sich als schuldlos benachteiligt gegenüber allen anderen, gegenüber Nachbarn, ihrem Arbeitskollegen, gegenüber den reichen Touristen. Freunde hat sie nicht. Sie klammert sich an ihre Schwester Elena, was soweit geht, dass sie deren zunehmendes Interesse für den Bären als massive Bedrohung ihrer schwesterlichen Beziehung ansieht.

Hier wird der Charakter einer isolierten, in sich selbst verkurvten jungen Frau gezeichnet, in den der Leser im Lauf der Geschichte immer mehr Einblick bekommt. Die anfängliche Sympathie mit Sam und ihrem vermeintlich schweren Schicksal schwindet mehr und mehr. Dabei ist der Bär Auslöser und Beschleuniger der überaus spannenden Geschichte, in der am Schluß - jedenfalls für mich - vieles in einem ganz neuen Licht erscheint.

Diese Charakterzeichnung hat mir überaus gut gefallen. Genauso wie die dem Roman innewohnende Gesellschaftskritik, veranschaulicht am Beispiel der prekären Jobs der Geschwister und am Beispiel des für viele ruinösen amerikanischen Gesundheitssystems.

5 Sterne für diesen Roman. Für mich ein Lesehighlight in diesem Jahr.