Rezension

Schneeweißchen, Rosenrot und der Bär

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von Julia Phillips

Bewertet mit 4 Sternen

Julia Philipps hat ihrem zweiten Roman ein Zitat aus Grimms Märchen "Schneeweißchen und Rosenrot" vorangestellt. Es ist nicht der letzte Bezug auf die Märchenwelt, der im folgenden Text zu finden ist. 
Zwei Schwestern und ein Bär. Zwei Frauen, deren Leben durch das Eintreffen eines wilden Tieres auf ungeahnte Weise aus den Fugen gerät.
Sam und Elena leben gemeinsam mit ihrer pflegebedürftigen Mutter in der Isolation und Einsamkeit einer Inselgruppe im Nordwesten der USA. Die finanziellen Verhältnisse der Familie sind prekär. Das Geld, das Sam mit Gelegenheitsjobs verdient, wird von den medizinischen Rechnungen verschlungen. Sie träumt vom Weggehen. Davon irgendwo gemeinsam mit ihrer Schwester ein neues Leben anzufangen. Ihre eingefahrenen Routinen werden gestört, als ein Grizzlybär auftaucht und eine unmittelbare Bedrohung für die Familie darstellt.

Obwohl es sich um ein ganz und gar anderes Buch handelt, habe ich Julia Philipps Eigenart zu schreiben und die Motive, zu denen sie sich hingezogen fühlt, aus ihrem Vorgängerroman wiedererkannt.
Das Buch ist durchsetzt on einer ätherisch bis tristen Atmosphäre. Manchmal ist der Text beinahe unwirklich, bei genauerem Hinsehen verschwimmen die unmittelbaren Grenzen zur Realität. Ich mochte den Bezug zur Märchenwelt, der immer wieder in Ansätzen durchschimmert. In Kombination mit der grauen Welt der Armen und Sozialschwachen entsteht so ein interessantes Spannungsfeld. Der Bär selbst ist dabei klar als Symbol oder Metapher erkennbar, also ebenfalls ein Stilmittel, das stark an Märchen erinnert. 
Inhaltlich konzentriert sich der Roman im Kern auf die Beziehung der Schwestern Sam und Elena. Genau diese hat sich mir jedoch nicht in all ihren Facetten erschlossen. Teilweise hat man beim Lesen das Gefühl, die beiden (inklusive der Handlung) drehen sich viel zu lange um sich selbst. Ich gehe davon aus, dies ist genauso beabsichtigt. Dieses "Feststecken" miteinander und in diesem ungewollten, eigentlich verabscheuten Lebensentwurf. 
Das Ende, das die Autorin konzipiert hat, ist hingegen furios und dramatisch. Ähnlich wie der Bär die Schwestern reißt es die Leser aus dem Rhythmus des Romans. Ich bin am Schluss überrascht worden und das hat mir sehr gut gefallen.
Fazit: 
Julia Philipps hat einen sehr eigensinnigen, einzigartigen, in Teilen zähen, aber doch sehr lesenswerten Roman geschrieben. Wer atmosphärisch dominiertes Erzählen gepaart mit komplizierten innerfamiliären Konflikten und Sozialkritik mag, wird hier fündig werden.