Rezension

Der Bär zwischen uns

Cascadia -

Cascadia
von Julia Phillips

Bewertet mit 3 Sternen

Schneeweißchen und Rosenrot gehört mit zu meinen Lieblingsmärchen. Ich mag vor allem die Szenerie dieser einfach lebenden Mädchen mitten im Wald, die so schön wie gut oder gut wie schön sind. Zu allen Tieren und Lebewesen haben sie ein gutes Verhältnis - bis auf den fiesen Zwerg, dem trotzdem immer geholfen wird. Und dann dieser verzauberte Prinz im Bärenpelz. Natürlich werden die Mädchen für ihr Gutsein und ihre Schönheit belohnt mit Prinzen und Traumhochzeit. Mir erschließt sich sofort, warum Julia Phillips einen Auszug aus diesem Grimm’schen Märchen ihrer Bärenmähr voranstellt. Die Schwestern Sam und Elena könnten ebenfalls einen Prinzen gebrauchen, der sie aus ihren schwierigen Verhältnissen herausholt. Sie leben zwar auf einem idyllischen Fleckchen Erde umgeben vor allem von Wasser, doch die Pflege ihrer schwerkranken Mutter fordert den Mädchen alles ab. Das Geld ist knapp und die Träume groß. Sam kann an nichts anderes denken, als dass sich das Leben endlich wandeln möge. Wie ein Mantra trägt sie die Verabredung zwischen sich und ihrer Schwester durch den eintönigen Alltag: Irgendwann, wenn die Mutter nicht mehr ist, kann das Haus und Grundstück zu Geld gemacht werden und sie beide die Insel für immer verlassen. Doch eines Tages schwimmt ein Bär auf die Insel und bringt viel zu viele Veränderungen. Er hat sich ausgerechnet das schäbige Haus von Sam und Elena für regelmäßige Besuche ausgesucht. Während Sam vor allem Angst und Schrecken verspürt, macht sich bei Elena eine große Faszination für das riesige Tier breit. Und plötzlich muss Sam erkennen, dass sie die Beziehung zu ihrer Schwester völlig falsch eingeschätzt hat.

Geschwister haben es der Autorin anscheinend angetan. In ihrem Debütroman „Das Verschwinden der Erde“ werden zwei Schwestern am anderen Ende der Welt entführt und wiedergefunden. In „Cascadia“ scheint das Band zweier Schwestern engstens miteinander verknüpft und gerät durch einen Bären in gefährliche Schwingungen. Phillips lässt die Geschichte ganz aus der Perspektive von Sam erzählen. Die kleine Schwester, die zu ihrer großen, schlauen, beliebten Schwester aufschaut und von einem neuen, gemeinsamen Leben fern der Heimat träumt. Die kleine Schwester, die im Schatten ihrer großen Schwester steht. Sich selbst nichts zutraut, ganz auf den Rat und Zuspruch von Elena angewiesen ist. Als hätte Elena nicht genug zu schultern. Die Krankheit der Mutter lastet vor allem auf ihr. Die finanziellen Sorgen, der Haushalt, die Pflege. Während Sam träumt, stellt sich Elena der Realität und zerbricht daran. Anders vermag ich mir nicht zu erklären, dass sich die rationale Elena in diesen riesigen Bären verguckt und ihr Leben aufs Spiel setzt. So wird der Bär zum Sinnbild für die Beziehung der beiden Schwestern. Für Sam verkörpert er vor allem die Angst vor Veränderung, vor dem Verlust der Schwesternbeziehung. Für Elena ist es ein Abenteuer, ein Spiel mit dem Feuer, die Emanzipation von Vernunft und Verantwortung. Das Ende lässt sich verschiedentlich interpretieren. Ich persönlich würde nicht von einem märchenhaft glücklichen Ende sprechen. Vielleicht eher die Richtung: Am Ende bekommt jeder, was er verdient. Ich bleibe nachdenklich zurück, muss an meine eigene Schwester denken. Warum sind Beziehungen innerhalb der Familie manchmal so schwierig? Weil wir unseren Kindheitsrollen nicht entkommen? Reden und uns immer nur missverstehen? Nach außen haben Sam und Elena fest zusammengehalten, doch nach innen fehlte die echte Verbindung auf Augenhöhe.