Rezension

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Hans mit den vielen Beinamen

Der Inselmann -

Der Inselmann
von Dirk Gieselmann

Bewertet mit 5 Sternen

Ein Buch der leisen Töne

Nach den ersten Seiten im Buch, dachte ich, es handele sich um eine moderne
Robinsonade, eine Familie zieht sich auf eine einsame Insel inmitten eines Sees zurück, weil die Eltern von der Gesellschaft enttäuscht sind. Aber dem ist nicht so. Das Leben auf der Insel steht nicht im Vordergrund, sondern Hans’ Beziehung zur Insel. Solange sie noch in der Stadt wohnten, fühlte Hans sich nicht wohl. Unbemerkt von den Eltern konnte ihn Manni, ein Junge aus der Nachbarschaft schlagen, quälen, ihm sein Taschengeld abnehmen. Von anderen Nachbarn wurde Hans beschuldigt, Äpfel von einem Baum im Hof gegessen zu haben, dabei war es Manni. Und derlei Schikanen mehr. Die Eltern kümmert es nicht, sie sind so sehr mit ihrer eigenen Misere beschäftigt, dass sie nichts davon mitbekommen. Das Leben auf der Insel erscheint Hans wie eine Erlösung von seinen Qualen in der Stadt. Die Insel wird sein Reich, der Hund des ehemaligen Schäfers wird zu
seinem Kameraden, mehr braucht er nicht. Auch die karge Kost ist für Hans willkommen.
Hans wird auf der Insel zu “Hans, der Erste. Hans, der Große. Hans, Herrscher von
Amerika” (S. 15) und zu “Hans, der Gewaltige. Hans, der Kirchen zermalmt. Hans, der das Festland verstößt” (S. 53) und “Hans, der Starke. Hans, der einen Schafbock bezwingt,Hans, der König der Tiere.” (S. 82)..
Doch nach einigen glücklichen Jahren schwerer Arbeit und totaler Freiheit tritt das Schicksal ihm wieder in den Weg. Hans muss zur Schule gehen. Und in der Schule beginnt sein altes Leid erneut, in Form eines starren Schulmeisters, der die Not und innere Verzweiflung des Jungen nicht erkennt und in Form von Manni, der ihn gleich in der ersten Woche brutalst zusammenschlägt. Hans weigert sich daraufhin noch in die Schule zu gehen. Er versteckt sich tagsüber im Schilf der Insel, taucht nur nach Schulschluss wieder auf. Und der Schulmeister erscheint, überredet die Eltern, Hans auf die Festung zu schicken, da werden schwer erziehbare Jungen zu guten Menschen herangezogen. In Wirklichkeit lebt Hans da
wie in einem Gefängnis, sieben lange Jahre mit harter Arbeit, Prügelstrafe für die kleinste Pause und karge Kost. Die Weihnachtspäckchen, die die Kinder von daheim erhalten futtert der Anstaltsleiter genüsslich selber auf, nicht einmal die Weihnachtskarten dürfen die Jungen bekommen. Hans wird zu: “Hans, der Verlorene. Hans der Schwache. Hans, der sich nicht mal mehr ertränken kann” (S. 107) Und auch zu: “Hans, einer von vielen. Hans, Knecht unter Knechten. Hans, der nicht mehr Hans ist.”(S. 112). Und weiter: “Hans, der Verwundete. Hans der Unverwundbare. Hans, der unter Hieben leidet” (S. 119). Schließlich, nach sieben endlosen Jahren darf Hans die Festung verlassen, er ist nun: “Hans der
Gezeichnete. Hans, der Vernarbte. Hans, der Unverwechselbare.” (S. 126). Hans wandert unermüdlich, acht oder neun Tage lang, bis er endlich zur Insel seiner glücklichsten Kindheit zurückkehrt. Der Hund erkennt ihn und Hans fühlt sich wie: “Hans, der König im Exil. Hans, der endlich heimkehrt. Hans, der das Zepter wieder an sich reißen will.” (S. 141)
Doch sein Vater will ihn nicht da haben. Er empfängt ihn mit der Axt in der Hand und erklärt barsch “Hier ist kein Platz für Dich.” (S. 145) Die nächsten Jahre arbeitet Hans als Erntehelfer und sonstige Gelegenheitsjobs. “Er tat, was anfiel, nahm den Lohn entgegen und zog weiter” (S. 153) Es vergehen  einige Jahre, bis Hans wieder auf die Insel hinaus rudert. Und da kann er endlich bleiben. Der Vater ist gestorben, er kümmert sich um seine Mutter, um die Schafe, um die Insel. Es vergehen die Jahre, die Jahrzehnte. Hans wird zu “Hans, der Verblassende. Hans, den die Zeit einst vergaß. Hans, der Erste und Letzte” (S. 171).
In so kurzen Sätzen lässt sich ein Menschenleben erfassen. Mit all seinen Höhen und Tiefen, mit dem Guten und dem Schlechten.
Der Sprachstil - aus der Sicht eines Kindes "mit alter Seele" - ist ergreifend schön und melancholisch, knappe und karge Sätze, die doch alles ausdrücken, was die Sprache herzugeben vermag, lassen das Buch trotz der Düsternis, zu einem Lesevergnügen werden.
Es sind diese leisen Töne, die im Gesagten mitschwingen, die zu Herzen gehen, die uns über Hans und sein schweres Leben nachdenken lassen.