Rezension

Gegen das Vergessen und Verleugnen

Rote Kreuze
von Sasha Filipenko

Bewertet mit 5 Sternen

Diesen klugen, berührenden, wichtigen und gut recherchierten Roman musste ich erst mal sacken lassen, weil ich am Ende eigentlich aus den Tränen nicht mehr herauskam.

Nie hätte ich nach solch einem witzigen, sehr lebendigen Beginn gedacht, dass er in eine der schwärzesten Abgründe der Stalinzeit führt.

Sascha, Fußballschiedsrichter, zieht aus Russland nach Minsk. Nach dem Tod seiner Frau möchte er mit seiner kleinen Tochter einen Neuanfang wagen. Hier lernt er nun die betagte, von Demenz betroffene Nachbarin Tatiana kennen. Sie erzählt Sascha ihr ergreifendes und erschütterndes Schicksal.

Zu Stalins Zeiten arbeitete sie als Sekretärin im Auswärtigen Amt. Als der Krieg durch Hitler begann, musste ihr Mann an die Font. Irgendwann erfährt sie, aufgrund einer Liste des Internationalen Roten Kreuzes, dass ihr Mann in Kriegsgefangenschaft gelangt ist und sie gerät in Panik. Kriegsgefangene galten nämlich, laut Stalins Anweisungen, als Deserteure. Das sind nun Staatsfeinde und hierfür sind ebenfalls die Familienmitglieder, die Frauen und Kinder verantwortlich zu machen. Das heißt konkret: Verhaftungen, Folter, Kinderheim, Gulag, Erschießungen. Tatiana fürchtet um ihren Mann, um sich und ihr Töchterchen Assja und entschließt sich, die Liste zu fälschen...

Das Werk nahm mich absolut gefangen, ich konnte es irgendwann nicht mehr aus der Hand legen.

Der belarussische Autor, der in Russland lebt, kann einerseits sehr witzig und lebendig schreiben, andererseits aber auch tief berühren.

Seine Figuren sind einfühlsam gezeichnet und gehen zu Herzen. Er schreibt sehr direkt, detailliert und überzeugend über die Verhältnisse unter Stalin, für die er Originaldokumente sichtete und diese teils im Roman wiedergab. Er zeigt die Unmenschlichkeit, das Absurde von Totalitarismus und Krieg und legt den Fokus auf den Umgang mit Kriegsgefangenen, den Massensäuberungen sowie den Zuständen in den Gulags.

Die titel gebenden roten Kreuze haben im Roman übrigens ganz viel gestaltliche Bedeutungen, man begegnet ihnen immer wieder auf verschiedenste Weise. Ebenfalls begegnet man russischen Gedichten oder Liedtexten und den einschlägigen Denkmalwitzen..:)

Einen Kritikpunkt habe ich dennoch: bei näherer Betrachtung ist die Rahmenhandlung vielleicht etwas kitschig und klischeehaft. Insbesondere diese junge Nachbarin, die sich Sascha gleich an den Hals wirft, das gefiel mir nicht so ganz.

Insgesamt bin ich dennoch tief beeindruckt und wurde sehr nachdenklich gestimmt. Ich freue mich zudem sehr, dass diese Dinge wieder in das öffentliche Bewusstsein geraten.Vieles wurde noch nicht verarbeitet. Oder aber im Gegenteil, der Autor zeigt auch, wie sogar heutzutage noch Stalin verehrt wird und dessen Terror, Willkür und Massenmorde verleugnet werden. (Da haben wir Deutschen ja ebenfalls unsere eigenen einschlägigen Erfahrungen.)

Unbedingt lesen!