Rezension

Diese Rezension enthält Spoiler. Klicken, um alle Spoiler auf dieser Seite lesbar zu schalten.

Kampf gegen das Vergessen

Rote Kreuze
von Sasha Filipenko

Bewertet mit 3.5 Sternen

Wichtiges geschichtliches Thema, jedoch eher investigativer Journalismus als Roman.

Die neunzigjährige Tatjana leidet an Alzheimer und malt deshalb rote Kreuze an Wohnungstüren in ihrem Wohnhaus, um zurück zu ihrer eigenen Wohnung zu finden. Der junge Alexander, der soeben in diesem Haus eingezogen ist, entfernt ein Kreuz an seiner Wohnungstür, woraufhin ihn Tatjana auf die Bedeutung des Kreuzes für sie hinweist. Doch nicht nur das, sie drängt den jungen Mann, der offensichtlich seine Ruhe will, dazu, mit ihr in ihre Wohnung zu kommen, wo sie sofort anfängt, ihm ihre Lebensgeschichte zu erzählen. 

Die Handlung mutet ein wenig surreal an, denn es entwickelt sich kein Dialog zwischen den Personen. Alexander, der eben noch keinerlei Interesse an der alten Dame hatte, sitzt brav dabei, nippt höchstens mal an seinem Tee und hört stundenlang zu.

Am nächsten Tag begegnen sich die beiden wieder im Treppenhaus. Dieses Mal ist es an Alexander, seine Geschichte zu erzählen, wobei nun Tatjana die stumme Zuhörerin gibt. Die Geschichten, die die beiden zu erzählen haben, sind durchaus interessant, allerdings ist die Präsentation in Form von Monologen ziemlich seltsam und unglaubwürdig. Auch dass Tatjana Alzheimer haben soll, erscheint seltsam, denn sie zitiert seitenweise Originaldokumente von vor vielen Jahrzehnten.

In der ersten Hälfte des Buchs haben mich der nüchterne Stil des Autors und die gestellten Szenen sehr gestört, ich konnte keinerlei Empathie für die Personen empfinden. Dann hat mich das Buch aber doch noch erreicht. Der Stil des Autors ändert sich zwar nicht, aber die Szenen, in denen Tatjana von ihrer Zeit in einem Arbeitslager und den unhaltbaren Zuständen dort berichtet, gingen  mir unter die Haut.

Sasha Filipenko hat für „Rote Kreuze“ sehr viel Recherchearbeit geleistet. Originaldokumente, die in Russland nicht zugänglich waren, hat er zum Beispiel in der Schweiz aufgespürt. Das Buch enthält eine Vielzahl von Originaldokumenten, Schriftverkehr zwischen dem Roten Kreuz in Genf (hier wieder das Leitmotiv des Roten Kreuzes) und dem sowjetischen Außenministerium. Diese Briefe nehmen viele Seiten des Romans ein, was den Lesefluss erheblich hemmt. Meiner Meinung nach wären sie besser als Anhang beigefügt worden.

Filipenko hat ein wichtiges und in der Sowjetunion totgeschwiegenes Thema angesprochen. Allerdings hat mir die Umsetzung seines investigativen Journalismus als Roman nicht gefallen, zu hölzern sind die Dialoge, zu wenig glaubhaft manche Situationen.

Vielleicht ist die Geschichte als Parabel gemeint, wobei Tatjana für das „alte Russland“ steht, für die Generation, die die Stalinzeit mit all ihren Gräueln noch erlebt hat und verhindern möchte, dass diese Erinnerungen verloren gehen (weshalb Tatjana Alexander, als Vertreter des „jungen Russland“ noch ihre Geschichte erzählt, bevor es aufgrund ihrer Alzheimererkrankung nicht mehr geht.) Wofür Alexander als junger Russe allerdings steht, ist mir nicht klar. Ein Mann, der noch ein Fußballspiel zu Ende bringen will, obwohl seine Frau gerade gestorben ist?

Das Buch vermittelt viel geschichtliches Wissen, die Umsetzung als Roman finde ich jedoch nicht gelungen.