Rezension

Märchen meets Realität

Der Märchenerzähler - Antonia Michaelis

Der Märchenerzähler
von Antonia Michaelis

Bewertet mit 3 Sternen

Abel ist der Außenseiter in der Schule. Er wird nur "der polnische Kurzwarenhändler" genannt, weil er ein Drogendealer und Geheimniskrämer ist. Aber das ist nur eine Seite von ihm. Eine andere Seite ist die, die seine kleine Schwester Micha kennt. Er erzählt ihr ein Märchen und tut auch sonst alles, um sie zu beschützen. Aber wie weit würde er dafür gehen? Und Anna, die in ihrer eigenen Seifenblase lebt, ist fasziniert von ihm. Welches Geheimnis umgibt ihn? Sie lernt ihn kennen und dann muss sie feststellen, dass das Märchen zur Realität wird. Morde geschehen, aber Abel kann es nicht gewesen sein. Wer ist der Mörder?

Der Prolog klingt sehr rätselhaft und der Leser findet damit zunächst einen guten Start in das Buch. Man möchte unbedingt wissen, was es damit auf sich hat. Aber leider machen die nächsten Seiten diesen Eindruck wieder zunichte. Die Autorin lässt sich auf den folgenden ca. 100 Seiten langatmig über die Protagonisten und Nebencharaktere aus; die Geschichte dümpelt ziemlich vor sich hin, bevor sie ein bisschen neuen Schwung bekommt. Dies ist auch dem Schreibstil der Autorin geschuldet. "Der Märchenerzähler" ist nach "Die Nacht der gefangenen Träume" mein zweites Buch von ihr. In ihrem ersten Buch hat sie mich von Beginn an mit ihrem flüssigen Schreibstil in den Bann gezogen. Das kann ich leider von diesem Buch nicht sagen. Der Stil erinnert eher an eine Erzählung, nicht an einen Roman. Wörter und Wortgruppen werden teilweise sehr häufig wiederholt. Die Wiederholungen sollten sicherlich ihren Inhalt unterstreichen, aber das ist der Autorin leider nicht gelungen. Vielmehr nervt das mit der Zeit.

Auch die Charaktere selbst bleiben ein bisschen blass. Ich konnte sie mir kaum vorstellen. Ihr Aussehen wurde bis auf ein paar hervorstechende Eigenschaften wie die schwarze Wollmütze und die eisblauen Augen von Abel fast gar nicht beschrieben. Ihre Eigenschaften wurden an passenden Stellen hervorgehoben; vieles ergab sich auch aus den Interaktionen. Aber insgesamt habe ich keine wirklich gute Vorstellung der Figuren bekommen. Sie sind mir allesamt - bis auf Micha - ziemlich unsympathisch geblieben. Die beste Freundin von Anna klingt wie eine 80-jährige Frau, das fand ich auf Dauer auch sehr nervig. Anna und Abel sind ebenfalls wahnsinnig anstrengend. Ich glaube, die sind beide psychisch irgendwie angeknackst. Bei Abel ist es noch nachvollziehbar; bei Anna hingegen gar nicht. Sie kommt aus gut behüteten, wohlsituierten Verhältnissen und an keiner Stelle in der Geschichte gibt es einen HInweis auf einen möglichen Grund. Ihr Verhalten ist an manchen Stellen zunächst zwar einleuchtend, aber wenn, dann schon ein paar Minuten später nicht mehr. Der Autorin ist es insofern schon sehr gut gelungen, die innere Zerrissenheit der beiden Protagonisten darzustellen. An verschiedenen Stellen habe ich durchaus mit der einen mitgelitten, den anderen gehasst; ihn bemitleidet oder mich für beide gefreut.

Ebenfalls gut gelungen ist der Autorin, die Spannung aufrechtzuerhalten, wer die Morde begangen hat. Der Leser kommt nicht umhin, die Spuren aufzunehmen und sich so seine Gedanken zu machen. Das war der hauptsächlichste Grund, weshalb ich das Buch nicht beiseite gelegt habe. Denn zwischendurch schwächelt die Story mit belanglosem Inhalt doch ziemlich.

Dieses Buch regt auch ganz sicher zum Nachdenken an. Wie weit würdet ihr gehen für einen geliebten Menschen? Rechtfertigt das aber bestimmte Taten? Dieses Buch ist ganz sicher kein Jugendbuch. Ohne auf sensible Gemüter Rücksicht zu nehmen, wird in dieser Geschichte agiert und reagiert und der Leser bleibt am Schluss einfach nur geschockt und erschüttert zurück, klappt das Buch zu und kann das alles überhaupt nicht fassen.

Ich habe gerade am Anfang, aber auch zwischendurch hin und wieder, sehr mit mir gerungen, ob ich weiterlese. Die Neugier hat mich dazu getrieben, durchzuhalten. Insofern wurde meine Neugier auch gestillt. Aber ich kann das Buch wirklich nicht bedigungslos weiterempfehlen. Wer starke Nerven und viel Geduld mit Nervensägen hat, der darf gerne mal einen Blick oder auch zwei wagen. Ansonsten muss man dieses Buch wirklich nicht gelesen haben. Ich vergebe deshalb 3/5 Sternchen.