Rezension

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Die Sehnsucht des Vorlesers - ein humorvolles modernes Märchen für Bibliophile...

Die Sehnsucht des Vorlesers
von Jean-Paul Didierlaurent

Bewertet mit 4.5 Sternen

"Es war reiner Zufall, dass der USB-Stick an diesem Montagmorgen Guylain Vignolles vor die Füße fiel. Er hätte ihn genauso gut ignorieren können. Doch das Schicksal wollte es nun mal, dass er sich danach bückte. Als der 6-Uhr-27-Regionalzug anfuhr, schob er ihn kurzerhand in seine Jackentasche. Und damit nahmen die Dinge ihren Lauf."(Quelle: Buchrückentext)
Das humorvolle Romandébut des französischen Autors Jean-Paul Didierlaurent (in der Übersetzung ins Deutsche von Sonja Finck) erschien 2015 im dtv-Verlag München und kommt in äußerst interessanter und farblich (gelb-ocker) stimmiger Aufmachung und layout daher: Das Cover kann der Leser nach Beendigung der Lektüre noch besser verstehen. Der Roman umfasst nur 220 Seiten, diese aber "haben es in sich".

Meine Meinung:Die Hauptprotagonisten in diesem Roman sind Guylain, Yvon, Guiseppe und später dann Julie - Nebenrollen spielen Monique, Yvette (Schwestern) und andere SeniorInnen in der Residenz "Rosengarten".Guylain Vignolles liebt Bücher, arbeitet jedoch in einer Papierverwertungsfabrik, deren Maschine, die "Bestie" oder "Zerstör500" er als Maschinenführer bedient. Bei einem Unfall verlor sein älterer Kollege Guiseppe beide Beine, die er sich lt. Chargen-Nr. des Unfalltages mit Hilfe seines Freundes Guylain nach und nach in anderer Form "wieder beschafft" - beide Männer sowie auch Yvon Grimbart, dem Schrankenwärter der Firma, verbindet die Liebe zur Literatur....So liebt Yvon Klassiker und besitzt Bücherstapel von Racine, Diderot u.a., da er "sein Herz für die klassische Verskunst" entdeckte. Guylain, der ein ziemlich monotones Leben führt, entdeckt auf einen Hinweis von Guiseppe eine Stelle in der Zerstör500, in der jeden Tag einige Blätter dem Schredderwerk der Bestie entgingen und die nicht zu Papierbrei verarbeitet wurden. Diese liest er - zur Freude aller Mitreisenden - morgens in der Bahn auf seinem Weg zur Arbeit laut vor.Die tägliche Ration, die Tonnen von Büchern, die die "Bestie" frisst, wird im Roman fast personalisiert und sehr poetische Ausdrucksweisen über die Bücher erfreuen jeden bibliophilen Leser: Die "entrissenen", geretteten, wenn auch zusammenhanglosen Blätter sind dunkler gestaltet und heben sich daher reizvoll von den übrigen Romanseiten ab; erscheinen als das, was sie tatsächlich sind: Etwas Besonderes.
Didierlaurent schreibt in einem sehr klar strukturierten und flüssig zu lesenden Stil, der einerseits melancholisch, jedoch auch heiter stimmt: Der typisch französische Humor "würzt" gemeinsam mit einem Hang zum Tiefgang so manche Buchseite, die auch von Freundschaft, (Mit)menschlichkeit und Emotionalität geprägt ist; zuweilen fällt die Ausdrucksweise und der poetische Vergleich auch etwas derb aus, was m.E. jedoch auch zum Inhalt (und zum französischen Humor, wie ich ihn kenne) durchaus passt.
In der zweiten  Romanhälfte ist zu lesen, wie Guylain zufällig auf einem verloren gegangenen USB-Stick die Texte einer "Seelenverwandten" findet: In der Hoffnung, sie möge eines Morgens im Pendlerzug sitzen, liest er ihre poetischen Texte, die er dem USB-Stick entnimmt, vor: Sie stammen von Julie, einer Toilettenfrau in einem Pariser EKZ, die ihre tägliche Arbeit unter Beigabe von "Tantensprüchen" aufschreibt, sie sich quasi von der Seele schreibt... Weder das Leben von Guylain, der mit Goldfisch No. 5 zusammenlebt, noch das Leben von Julie läuft "rund" - und beide zählen Dinge - Julie zählt an jedem Märztag, an dem Frühlingsanfang ist, die Kacheln in den Toiletten ab (47.717) und wünscht sich jedes Jahr eine "rundere" Zahl...Dieser Wunsch von ihr geht am Romanende auf sehr romantische Weise in Erfüllung und eine zarte Liebesgeschichte könnte beginnen....

Fazit:Ein humorvoller, dennoch tiefgründiger Roman, der die Herzen von Bibliophilen höherschlagen lassen wird; der aufzeigt, dass Bücher, Literatur Verbindungen zwischen Menschen schaffen können, Bücher und Texte in der Lage sind, Diskussionen zu entfachen - Kommunikation zu fördern - und dies nicht nur in der Residenz "Rosengarten", aber dort im Grunde ganz besonders: Ja, sie können sogar Emotionen wecken! Eine Hommage an die Welt der Bücher, ein modernes Märchen mit realen Ansätzen: Zentrale Leitthemen sind Einsamkeit, Liebe, Freundschaft, (Mit)menschlichkeit und auch Kreativität und Selbstvertrauen. Mir hat das Romandébut von Jean-Paul Didierlaurent sehr gut gefallen, ich kann es z.B. Menschen, die ebenfalls morgens zur Arbeit pendeln, sehr empfehlen: Und allen anderen romanliebenden Menschen mit Sinn für Humor mit einem Augenzwinkern ebenso!