Rezension

Held wider Willen?

Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße -

Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße
von Maxim Leo

Bewertet mit 5 Sternen

Held wider Willen? 
"Glücklich das Land, das Helden hat!", ruft Andrea, Schüler von Galileo Galilei, in dem gleichnamigen Schauspiel von Bertolt Brecht aus. 
"Glücklich das Land, das keine Helden nötig hat!", erwidert Galilei. 
Damit ist das Thema von Maxim Leos neuem Roman "Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße" umrissen: Braucht das Land Helden, und wenn ja, welche? 
Die Geschichte beginnt im Jahr 1983. Michael Hartung arbeitet bei der Reichsbahn in Ostberlin. Bei der Wartung einer Weiche bricht er versehentlich einen Sicherheitsbolzen ab, verschiebt die Reparatur aber zunächst einmal und geht nach Hause. Die Weiche ist damit blockiert und lässt sich nicht mehr verstellen. Es ist allerdings eine ganz besondere Weiche: Sie öffnet den Weg für die Fahrt nach West-Berlin (in der Tat gehörte das S-Bahn-System von ganz Berlin zur Ostberliner Reichsbahn - Zügen in West-Berlin, die repariert werden mussten, wurden über den Bahnhof Friedrichstraße nach Ost-Berlin geleitet und wieder zurück). Und tatsächlich fährt - so die Fiktion - am Abend eine S-Bahn mit 127 Passagieren nach West-Berlin. 127 Passagieren begehen also unfreiwillig Republikflucht. Die Mehrheit kehrt wieder freiwillig nach Ost-Berlin zurück, einige aber bleiben im Westen. 
Michael Hartung wird von der Stasi verhaftet und mehrere Tage verhört, dann aber wieder freigelassen weil deutlich wurde, dass er sich nicht als Fluchthelfer betätigt hat. Seinen Job verliert er, weil ein neues Weichensystem eingeführt und er somit überflüssig wird. Wegrationalisiert wird er dann auch in den folgenden Jahren in verschiedenen anderen Berufen, bis er sich im Jahr 2017 eine Videothek aufschwätzen lässt, die zunächst gut läuft, jetzt aber auch vor dem Aus statt, da Streaming-Dienste sie überflüssig machen. 
Michael Hartung ist also der geborene Looser. 
Dieses Schicksal droht auch dem Journalisten Axel Landmann. Das Magazin mit dem sprechenden Namen "Fakt", für das er arbeitet, verliert ständig Leser, Arbeitsplätze sind massiv bedroht, wenn nicht ein Sensationscoup gelingt. Da stößt Landmann auf die Stasi-Akte von Michael Hartung und wittert die Chance für eine Story: Einfacher Arbeiter ermöglicht selbstlos 127 Menschen die Flucht aus der Diktatur der DDR. 
Landmann besucht Hartung, der zunächst abstreitet, willentlich als Fluchthelfer agiert zu haben. Dann aber lässt er sich von Landmann mittels eines für ihn hohen Geldbetrages überreden, die Ereignisse so darzustellen, dass er die Weiche absichtlich blockiert hat, um die S-Bahn in den Westen zu leiten. 
Ab hier nimmt die Geschichte Fahrt auf: Landmann baut systematisch Hartung zu einem Medien- und Politik-Star auf: Alle Zeitungen berichten über ihn, er wird in Talkshows eingeladen, der Bundespräsident empfängt ihn und schlägt ihn vor, die Gedenkrede im Bundestag zum 30-jährigen Jubiläums des Mauerfalls zu halten. Und mit jeder Frage, die ihm gestellt wird, verstrickt sich Michael Hartung in das Netz seiner Lügen. 
Es wird deutlich: Der Roman ist eine Satire. Er nimmt den Medienbetrieb, den politischen Betrieb, die Jubiläumsfeier zum Gedenken an den Mauerfall, in die Jahre gekommene Bürgerrechtler und selbst die Stasi aufs Korn. Maxim Leo tut das sachkundig und gekonnt, immerhin ist er selbst Journalist. Und er tut das auf sehr amüsante Weise, sodass seine Satire zwar nicht sehr bissig ist, aber äußerst unterhaltsam. 
Köstlich die Parodie der Talk-Show, in der neben Hartung auch Katharina Witt auftritt mit ihrer "Prinzessinnen-Frisur", eine subtile Anspielung auf ihr unrühmliches Verhalten während der DDR-Diktatur. Amüsant auch die Selbstironie: Landmann schreibt ein Buch über das Leben von Michael Hartung und hofft, mit seinem Buch in die Bestsellerlisten zu kommen. Und auch Los schreibt ein Buch über Hartung.... 
Anrührend gestaltet ist die Begegnung von Hartung mit Michail Gorbatschow. Dieser legt seine riesigen Hände auf die Unterarme von Hartung und begrüßt ihn mit den Worten "Dobryy den',Gospodin Hartung". 
Allerdings gibt es einen zweiten Handlungsstrang, der sich der Satire entzieht: Hartung lernt eine Frau kennen und lieben, die als 14-Jährige mit ihren Eltern in der S-Bahn gesessen hat und deren Eltern entschieden haben, im Westen zu bleiben. Auf sehr ernsthafte Weise geht es hier um traumatische Erlebnisse der Vergangenheit, um Vertrauensverlust und den Versuch, Vertrauen wiederzugewinnen. 
Maxim Los gelingt es, die Figuren lebensnah und für die Leserin/den Leser völlig nachvollziehbar zu gestalten. Der Erzähler kann in das Innere der Personen blicken, gibt aber nicht zu viel vor, sodass genügend Spielraum für die Leserin/den Leser bleibt, sich selbst in die Figuren einzuführen. Die Sprache des Romans ist frei von Pathos und präzise in den Beschreibungen von Figuren und Örtlichkeiten. 
Und der Roman bietet Stoff, sich über eine Reihe von Problemen Gedanken zu machen: Wie funktioniert unsere Medienlandschaft? Wie gehen wir mit dem Gedenken an den Fall der Diktatur in der DDR um, wie mit den "Helden" der Bürgerrechtsbewegung? Wie hoch ist der Stellenwert der Wahrheit? Kann man verspieltes Vertrauen wiedergewinnen? 
Das alles macht den Roman sehr lesenswert bzw. auch hörenswert: Eingesprochen von dem großartigen Schauspieler Peter Kurth bietet er sieben Stunden wahren Hörgenuss. Kurth liest mit viel Understatement und erweckt doch die Figuren zum Leben.