Rezension

Ein unfreiwilliger Held mit einer Lügengeschichte, die ein anderer für ihn erfunden hat

Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße -

Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße
von Maxim Leo

Michael Hartungs berufliche Laufbahn ist nicht sonderlich beeindruckend: Seinen ersten Job bei der Bahn hat er wegen mangelnder Arbeitsdisziplin verloren und die nachfolgenden fielen jeweils dem technologischen Fortschritt zum Opfer. Dieses Schicksal scheint ihn bald erneut zu drohen, denn im Jahr 2019 kommt nicht mehr viel Kundschaft in seine Videothek und die Miete ist bereits überfällig.

Da erhält er Besuch vom Journalist Alexander Landmann, der einen Artikel über die Flucht am Bahnhof Friedrichstraße am 12. Juli 1983 veröffentlichen will. Ob Hartung derjenige ist, der die Weiche so gestellt hat, dass der Zug in den Westen fahren konnte? Und er dafür im Stasi-Gefängnis saß? Hartung reagiert zurückhaltend, doch die von Landmann gebotenen 2000 Euro benötigt er dringend. Er bestätigt Landmann, dass er die Weiche gestellt hat, allerdings aus Versehen. Und dass er im Gefängnis war, aber nur ereignislose vier Tage. In Landmanns Artikel wird er jedoch zum Held, der eine Flucht geplant und Folter überstanden hat. Bald kann er sich vor Interview-Anfragen kaum mehr retten. Hartung ist hin- und hergerissen: Soll er die Wahrheit erzählen oder Landmanns Story weiterspinnen?

Zu Beginn des Buches lernte ich Hartung kennen, der in seinem Leben wahrlich nicht viel Glück gehabt hat und dessen Videothek kurz vor dem Ruin steht. Dennoch reagiert er zurückhaltend, als Landmann ihm Geld für seine nicht sonderlich beeindruckende Geschichte bietet. Doch den final gebotenen 2000 Euro kann er nicht widerstehen. Dass er in Landmanns Artikel zum Helden glorifiziert wird überrascht ihn dann aber doch. Die Geschichte ist von Beginn an in einem lockeren, humorvollen Ton erzählt und es wurde mir nachvollziehbar gemacht, warum Hartung schließlich dem Druck von Landmann nachgibt und die erfundene Version der Ereignisse bestätigt.

Eins führt in dieser Geschichte zum anderen. Schnell begriff ich, dass Hartung, einmal als Held gefeiert, als diesem Lügengespinst nicht mehr so schnell wird ausbrechen können. Nur etwas warten, dann verliert die Öffentlichkeit das Interesse. Nur noch ein paar Interviews. Nur noch ein TV-Auftritt... Dabei wird Hartung, der zu Beginn die Wahrheit erzählen wollte, zunehmend instrumentalisiert. Es wird eine frische Story benötigt, die das Interesse am Mauerfall neu befeuert, und seine kommt gerade zur rechten Zeit. Hartung wird zum Spielball anderer, die viel zu verlieren haben und gänzlich über ihn bestimmen wollen.

Ich fand die Darstellung der Ereignisse unterhaltsam und wurde gleichzeitig ins Nachdenken gebracht, wie eine kleine Beschönigung der Ereignisse zu einem gigantischen Kartenhaus der Lügen werden kann, das jederzeit zusammenbrechen könnte. Natürlich ist es unweigerlich eine Frage der Zeit, bis die Geschichte aufzufliegen droht. Zu diesem Zeitpunkt steht für einige Menschen schon viel auf dem Spiel. Ich war gespannt, welchen Weg der Autor seine Figuren einschlagen lässt. Für mich ist der Abschluss gelungen, auch wenn nicht alles auserzählt wird.

Sehr gerne empfehle ich die Geschichte an Leser:innen weiter, die Lust auf eine humorvolle und gleichzeitig ins Nachdenken bringende Geschichte über einen unfreiwillig und unberechtigterweise ernannten Helden haben, der zunehmend Gefallen an der Lügengeschichte findet, die ein anderer für ihn erfunden hat.