Rezension

Ein Held wider Willen

Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße -

Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße
von Maxim Leo

Bewertet mit 5 Sternen

„Warum lasen die Menschen Bücher? Warum gingen sie ins Kino oder ins Theater? Doch nicht, weil sie die Wahrheit wollten. Sie wollten träumen, sich in den Geschichten der anderen wiedererkennen. Und er, Hartung, half ihnen dabei.“

Wir befinden uns in Berlin 2019, nur wenige Wochen vor dem 30. Jahrestag des Mauerfalls. Michael Hartung, ein ehemaliger Schranken- und Weichenwärter bei der Deutschen Reichsbahn, betreibt eine Videothek. In Zeiten von unzähligen Streamingdiensten eine denkbar schlechte Idee, doch Hartung und der techniologische Fortschritt stehen seit jeher auf Kriegsfuß: Jede Tätigkeit, der er im Laufe seines Lebens nachgeht, wird über kurz oder lang von der Technik überholt. Die Mietschulden werden immer größer, denn bis auf einige Leute aus der Nachbarschaft und einige Typen aus dem Viertel, die es schick finden, weiterhin die alte Kulturtechnik der DVD zu nutzen, kommt niemand in seinen Laden. Doch sein Leben soll eine jähe Wende erfahren, als eines Tages ein Journalist des Nachrichtenmagazins »Fakt« auftaucht, der bei seinen Recherchen auf Hartungs Stasiakte gestoßen ist und eine große Story hinter der legendären Flucht am Bahnhof Friedrichstraße am 12. Juli 1983 wittert. Obwohl Hartung damals nur durch ein Missgeschick 127 DDR-Bürgern zur Flucht in den Westen verhalf, ist er für gutes Geld bereit, die Wahrheit um der Geschichte willen etwas auszuschmücken. Nicht ahnen kann er, welche Wellen der publizierte Artikel schlägt und welch schwerwiegende Konsequenzen seine unbedachte Entscheidung nach sich ziehen wird.

Maxim Leo ist mit „Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße“ ein äußerst charmanter, geistreicher und unterhaltsamer Roman gelungen. Michael Hartung, ein einfacher Mann und Held wider Willen ist eine charismatische Figur, mit der sich jeder Leser identifizieren kann – auch wenn er zuweilen etwas zu eloquent in Anbetracht seiner Vita und seiner zu Anfang skizzierten Persönlichkeit daherkommt. Aber auch die anderen Figuren, in deren Innensicht wir eintauchen dürfen, sind durch und durch menschlich und authentisch. Da haben wir den Reporter Alexander Landmann, der Anfang der 70er Jahre als Kind mit seinen Eltern und Geschwistern von Kasachstan nach Deutschland kam, und der immer härter als seine Landsleute für Anerkennung kämpfen musste. Als er über Nacht mit seiner Geschichte über Michael Hartung berühmt wird, setzt er alles daran, um vom Sockel der Ehre nicht wieder runtergestoßen zu werden. Des weiteren lernen wir Harald Wischnewsky kennen, ebenfalls ehemaliger DDR-Bürger, dabei aber auch verdienter Bürgerrechtler und ehemaliger Revolutionär, der für das Verteilen von Flugblättern eine dreijährige Gefängnisstrafe absitzen musste. Er soll die Gedenkrede zum 30. Jahrestag des Mauerfalls halten, doch als mit Hartung plötzlich ein neuer Held – ein neues Gesicht mit einer originellen, unverbrauchten Geschichte! – auf der Bildfläche erscheint und an seiner Statt für diese Aufgabe ausgewählt wird, beschließt Wischnewsky diese Demütigung nicht auf sich sitzen zu lassen und Genaueres über diesen äußerst ominösen Hartung herauszufinden. „Ihn nervte die Art, wie mit diesem Typen umgegangen wurde. Wie unwichtig die komplette Geschichte dieses komplett verschwundenen Landes war. Eigentlich waren sie doch beide nur Statisten, Argumentationsfutter der anderen. Und obwohl er das alles schon immer irgendwie gewusst hatte, so war doch die Rolle, die man ihm diesmal zudachte, so erniedrigend, dass er einfach nicht weiter mitmachen konnte.“ Behilflich soll Wischnewsky dabei der gebürtige Thüringer Holger Röslein sein, Leiter des »Dokumentationszentrum Unrechtstaat DDR«, dessen Eltern mit ihm in den Westen geflohen sind als er drei Jahre alt war. Röslein gilt als der große Stasi-Jäger und trifft beim Fall Hartung schnell auf eine vielversprechende Fährte. „Als gelernter Historiker wusste Röslein, dass es die Geschichtsvermittlung leichter machte, wenn man einen guten Helden hatte. Aber so ein Held, der musste lange reifen, der brauchte eine ordentliche Portion Charisma und vor allem eine wirklich gute Story. […] Die Ostdeutschen, das war Röslein mit den Jahren klar geworden, hatten kein Helden-Talent. Sie waren zu bescheiden, zu naiv, zu ehrlich. Ihnen fehlte schlicht der Ehrgeiz, der Narzissmus, die ikonische Lässigkeit.“

Unterdessen gibt Michael Hartung Interviews und rührt als Hauptgast in einer live übertragenen Talkshow ein Millionenpublikum mit seiner (erfundenen) Geschichte zu Tränen. Nach den Beweggründen für sein waghalsiges Handeln am 12. Juli 1983 befragt, erzählt Hartung von seiner ersten großen Liebe, einer Balletttänzerin, die von einer großen Karriere am Broadway träumte, und der er zur Flucht in den Westen verhalf, damit sie ihren Traum verwirklichen konnte. [An dieser Stelle erklärt sich auch das Buchcover von „Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße“, auf dem eine filigrane Ballerina in einem Zugabteil zu sehen ist.] Hartung ahnt nicht, dass sich eine Frau die Sendung ansieht, die damals im Alter von vierzehn Jahren mit ihren Eltern in dem Zug nach Westen saß. Paula ist Prozessanwältin und leidet unter einem Fluchttrauma, das sie mit Hilfe von Hartung zu bewältigen hofft. Als die beiden sich näher kommen und eine Liebesbeziehung miteinander eingehen, muss Hartung sich entscheiden: Wählt er die Liebe und die Wahrheit oder den Ruhm und die Lüge?

„Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße“ ist trotz seiner Leichtigkeit und Eleganz ein äußerst komplexer Roman. Er rüttelt gekonnt an den festgefahrenen Denkmustern und Klischees von Ost und West, sodass der Leser am Ende der Lektüre idealerweise seine eigenen Ansichten mit einem Fragezeichen versieht. Auch Fragestellungen philosophischer Natur kommen nicht zu kurz: »Wir legen uns selbst die Vergangenheit zurecht […] Denken Sie doch nur daran, wie wir mit unserer persönlichen Geschichte umgehen. Was wir vergessen und woran wir uns erinnern. Gibt es einen einzigen Menschen, der seine Vergangenheit schonungslos ehrlich betrachtet? Ganz ähnlich ist es mit der großen Geschichte, auch das geht es darum, woran sie Mehrheit einer Gesellschaft sich erinnern will. Sie kennen doch sicher den berühmten Satz ›Geschichte ist die Lüge, auf die man sich geeinigt hat.‹ […] Letztlich, Herr Hartung, wird die Geschichte immer von den Siegern geschrieben.“

„Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße“ ist eine tragi-komische Geschichte mit einem zufriedenstellenden Ende – was in Anbetracht der angelegten Geschichte keine leichte Aufgabe war. Denn schließlich soll der äußerst charismatische Held der Geschichte nicht scheitern, gleichzeitig soll aber auch die Wahrheit über die Lüge siegen.