Rezension

Ein im doppelten Wortsinn fabel-hafter Roman

Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße -

Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße
von Maxim Leo

Bewertet mit 5 Sternen

REZENSION – Was ist Wahrheit? Wo beginnt Lüge? Oder gibt es alternative Wahrheiten? Darum geht es im satirischen Roman „Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße“ des in Ost-Berlin geborenen Schriftstellers Maxim Leo (52), im Februar beim Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen. Auch die deutsche Wiedervereinigung, Vorurteile und vermeintliche Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen und nicht zuletzt die Frage, wie historische Fakten interpretiert oder manipuliert werden können, werden angesprochen.

Maxim Leo erzählt vom erfolglosen Berliner Videotheken-Besitzer Michael Hartung, der gegen seinen Willen zum Helden gemacht und bald unverdient als Held deutscher Geschichte gefeiert wird. Im September 2019 besucht ihn der Hamburger Journalist Alexander Landmann in der Ost-Berliner Videothek. Bei Recherchen über eine spektakuläre Massenflucht aus der DDR im Sommer 1983 war Landmann in einer Stasi-Akte auf Hartung gestoßen. Dieser soll damals als Stellwerkmeister der DDR-Reichsbahn am Bahnhof Friedrichstraße eine Weiche so gestellt haben, dass ein S-Bahn-Zug mit 127 Fahrgästen über das Ferngleis nach West-Berlin fahren konnte. Hartung soll laut Akte zudem Kopf einer Fluchthelfer-Organisation gewesen sein, weshalb er ins Gefängnis kam, aber trotz dortiger „Sonderbehandlung“ seine Mittäter nicht verraten hat.

Hartung gibt zwar zu, dass er für die Fehlstellung der Weiche und die daraus folgende Umleitung des Zuges verantwortlich war. Doch allen anderen in der Stasi-Akte erwähnten „Fakten“ widerspricht er. Als Landmann ihm allerdings ein stattliches Honorar für seine Geschichte bietet, wird der finanziell klamme Hartung schwach und bestätigt alles, was der Journalist ihm vorhält oder von ihm hören will. Mit einigen schmückenden „Abweichungen“ macht Landmann in seiner Aufsehen erregenden Titelstory den bislang unbekannten Videotheken-Besitzer zum Helden, was nicht nur diesem, sondern auch ihm selbst als Journalisten Ruhm und Ehre einbringt. Anfangs nur widerwillig beginnt Hartung seinen unerwarteten Ruhm und das leicht verdiente Geld aus Interviews, Werbeverträgen und öffentlichen Auftritten zu genießen. Erst als er sich in Paula ernsthaft verliebt, die damals als Kind in jenem S-Bahnzug saß, will er aus seinem Lügengebilde ausbrechen.

Wie in alten Fabeln stehen sich auch in Leos Roman Gut und Böse gegenüber: Auf der guten Seite lernen wir Menschen wie Bernd, den Ladenbesitzer von gegenüber, und Nachbarin Bertha kennen sowie natürlich Hartung selbst, einen unbeholfenen, lebensuntüchtigen und von der Familie verlassenen Mann. Auf Seite der Bösen stehen Landmann und seine Kollegen der Sensationsmedien, die der Autor – früher selbst viele Jahre in Berlin als Journalist tätig – als „eine Jugendbande, die einem die Brieftasche klauen will“, beschreibt. Ebenfalls zu den Bösen rechnet Leo die Akteure des politischen Systems, die den willkommenen „Fluchthelfer“ ebenfalls für eigene Zwecke nutzen, wissentlich die von Landmann erfundenen „Abweichungen“ übersehen und sich die Wahrheit so zurechtbiegen, wie sie ihnen ins politisch-notwendige Bild passt: „Es gibt die kleine Wahrheit. Und es gibt die große Wahrheit. Die kleine Wahrheit mag … nicht ganz stimmen. Aber die große Wahrheit, die stimmt.“

Leo zitiert den französischen Philosophen Voltaire: „Geschichte ist die Lüge, auf die man sich geeinigt hat.“ Demnach gibt es keine objektive Geschichtsschreibung, sondern nur die von einer Mehrheit aktuell für richtig befundene. Erst spät erkennt Hartung: „Wenn alle ein bisschen mehr zweifeln würden, dann hätten wir viele Probleme gar nicht mehr.“ Mit dieser Erkenntnis wird der unfreiwillige Held erst in einem befreienden Auftritt als Festredner anlässlich des 30. Jahrestages des Mauerfalls tatsächlich zum Helden, der endlich zur Wahrheit und persönlicher Wahrhaftigkeit zurückfindet.

„Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße“ ist eine kurzweilige, amüsante und im doppelten Wortsinn fabel-hafte Geschichte, die bei allem Humor mit ihren Kernaussagen dennoch nachdenklich macht. Es ist die leichte Art, über eine ernste und komplexe Thematik zu schreiben, die Maxim Leos Roman vor allem auszeichnet. Nur einen Fehler hat dieser Roman: Mit nur 300 Seiten ist er leider viel zu kurz. Man wünscht sich, Leos Helden noch ein weiteres Stück seines Lebens zu begleiten.