Rezension

Verschachtelte Erzählweise

Milchmann - Anna Burns

Milchmann
von Anna Burns

Bewertet mit 4 Sternen

Die junge Frau, aus deren Sicht die Geschichte erzählt wird, lebt ihr Leben in geregelten Bahnen, sie hat ihre Arbeit, ihren Vielleicht-Freund und am Wichtigsten für sie: ihre Bücher. Oft läuft sie durch die Straßen und liest dabei, immer ein Buch aus dem neunzehnten Jahrhundert, denn das zwanzigste Jahrhundert gefällt ihr nicht. Bis eines Tages dieser ältere Mann, den alle unter dem Namen Milchmann kennen, neben ihr ist und beiläufig davon spricht, wie gefährlich es doch sei, in diesen unruhigen Zeiten lesend umher zu laufen. Er bietet ihr an, in seinem Auto mit zu fahren, doch die junge Frau ist sich der Gefahr bewusst, die hinter diesem Angebot steht und lehnt höflich ab. Als der Milchmann wieder auftaucht, ist die junge Frau gerade beim Joggen im Park und da er nicht unhöflich zu ihr spricht und sie auch nicht berührt, sieht sie keinen Grund, sich belästigt zu fühlen - obwohl ihr der Mann und sein plötzliches Auftauchen Angst machen, zumal er eben so plötzlich wieder verschwindet. Um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, spricht sie mit niemandem darüber, aber die Nachbarn, allen voran der Mann ihrer ältesten Schwester, fangen dennoch an über die junge Frau und ihre angebliche Affäre mit dem verheirateten Milchmann zu reden. Er ist ein Staatsverweigerer, einer der Anführer der Bewegung und hat große Macht. So zieht er seine Kreise um die Protagonistin immer enger, doch die Bedrohung ist so subtil, dass die unbedarfte junge Frau immer noch nicht weiß, ob es Sinn macht, jemandem davon zu erzählen - doch das Gerede ist ihr voraus geeilt und als sie sich eines Tages ihrer Mutter anvertraut, glaubt diese ihr nicht, so dass sich die namenlose Protagonistin immer weiter in sich selbst zurück zieht....

"Milchmann" von Anna Burns handelt in der Zeit des Nordirlandkonflikts, was aus dem Text nicht wirklich zu erkennen ist. Die Zeit der Handlung kann der Leser nur durch Hinweise auf Filme und Musik erahnen, die die Männer in der Gegend ablehnen. Beiläufig, weil es für die Protagonistin zum Alltag gehört, werden Autobomben und entführte Linienbusse erwähnt, Staatsverweigerer und Staatsbefürworter, die richtige und die falsche Religion, was ohne die Informationen, die ich aus Pressetexten entnehmen konnte, schwierig zum Einstieg in das Buch gewesen wäre. Ein kurzes Vorwort um den geschichtlichen Hintergund der Handlung wäre da hilfreich gewesen. Auch die Erzählweise ist ungewöhnlich, so wird keine der Figuren mit Namen benannt, sie sind älteste Schwester, Schwager drei, Vielleicht-Freund, Nachbar und so weiter. Mit erschreckender Beiläufigkeit berichtet die Hauptfigur von den vielen Menschenleben, die der Konflikt bereits gefordert hat, es gehört zum Alltag, dass dieser Bruder und jener Nachbar getötet wurde, kaum eine Familie im Bezirk hat noch keinen Verlust zu beklagen. Diese alltäglichen Begebenheiten während des Nordirlandkonfliktes sind es, die aus der Sicht der Protagonistin so nebenher erzählt werden, und dabei so weit entfernt von unserer heutigen Realität scheinen, dass sie auf mich beim Lesen schockierend wirkten und ein Bild jener Zeit vor meinem geistigen Auge zeichneten.

Die Schreibweise habe ich in der ersten Hälfte des Buches als sehr verschachtelt empfunden, die Protagonistin kommt in ihren Gedanken von einer Szene in die nächste, weil sie sich vom Milchmann bedrängt fühlt, geht sie in Begleitung ihres Schwagers laufen, dabei denkt sie an eine Episode mit ihrem Vielleicht-Freund zurück bie dem einige Nachbarn zu Besuch sind, aus diesen Gedanken kommt sie zum Chefkoch, dem Freund ihres Vielleicht-Freundes und von den Gedanken geht sie noch weiter zurück, erst zum Stand ihrer Beziehung, dann zum Grund, warum ihr Vielleicht-Freund alleine in seinem Haus wohnt. Beim Lesen musste ich mir in Erinnerung rufen, dass sie immer noch mit ihrem Schwager durch den Park joggt und alles andere in ihren Gedanken statt findet. Doch plötzlich ist der Lauf vorbei und eine in der Gedankenspirale geplante Verabredung mit ihrem Vielleicht-Freund findet statt, die sie dann ebenfalls gedanklich zerpflückt. Erst viel später im Buch ist mir bewusst geworden, dass der Schreibstil die verworrenen Gedankengänge der Hauptfigur wiederspiegelt. Als sie später einige unangenehme Wahrheiten erkennt und sich nicht mehr vor der Realität flüchtet, wird auch die Geschichte klarer und geradliniger erzählt.

In der ersten Buchhälfte war ich erstaunt, was über diese Geschichte, die mit dem britischen Man Booker Prize ausgezeichnet worden ist, in den Pressestimmen geäußert wurde, am Ende muss ich zugeben, dass alles, was ich darüber gelesen habe, zutrifft. "Milchmann" ist keine leichte Lektüre, die verschachtelten Beschreibungen fordern Konzentration und ziehen manche Stellen auch ein wenig in die Länge. Doch immer wieder gab es Szenen, in denen still und doch sarkastisch die Misstände jener Zeit aufgezeigt werden, zum Beispiel als die Protagonistin von den Themenfrauen berichtet, die ersten Frauenrechtlerinnen, die sich in ihrem Bezirk versammeln. Nach der allgemeinen Meinung wäre es ja noch in Ordnung gewesen, wenn diese Themenfrauen die Unterdrückung ihrer Geschlechtsgenossinnen anhand historischer Beispiele angeklagt hätten, aber nein, sie forderten aktuelle Veränderungen, zum Beispiel, dass die Männer ihre Frauen nicht mehr schlagen dürften - was allgemein als völlig absurd angesehen wurde. Mit jugendlicher Naivität schließt sich die Hauptfigur den gängigen Meinungen der breiten Masse an, erst viel später wird ihr - und damit auch dem Leser - bewusst, wie sehr sie den Kopf in den Sand gesteckt hat. Eine Freundin weist sie schließlich darauf hin, dass sie bereits vor dem Auftauchen des Milchmanns regelmäßig kontrolliert und fotografiert worden ist (was sie zuvor auf seine plötzliche Aufmerksamkeit geschoben hatte), dass sie bereits damals von der Gemeinschaft als Übergeschnappte abgestempelt worden war, auch weil sie die Realität mit Hilfe ihrer Bücher ausgeblendet hatte.

Fazit: Anna Burns schildert die Ereignisse um die namenlose junge Frau in einzigartigem Schreibstil, der nicht immer leicht zu lesen ist. Mit alltäglichen, beiläufig berichteten Begebenheiten wird die Grausamkeit des Nordirlandkonfliktes aufgezeigt, auch die Geschichte der Protagonistin und die zunächst subtile Bedrohung, die vom Milchmann ausgeht, wird mit der jugendlichen Naivität der jungen Frau erzählt und wirkt dabei doch sehr eindringlich auf den Leser.