Rezension

Die Gesellschaft als Gefängnis

Milchmann - Anna Burns

Milchmann
von Anna Burns

Bewertet mit 3.5 Sternen

Oft neigt man bei Schilderungen von totalitären Systemen schnell dazu, zu sagen, 'Das kann bei uns nicht passieren.' Wir wissen alle, dass das nicht stimmt. Es gibt genug Beispiele, die das Gegenteil beweisen. Was allerdings trotzdem oft fehlt oder nur schwer vermittelt werden kann, ist, was die Beteiligten sich bei ihrem Verhalten denken, wie sie sich vor sich selbst rechtfertigen (falls sie es tun) und mit ihrem Alltag Tag für Tag arrangieren. Nicht die Helden, die evtl. tatsächlich aufbegehren (und für die es Romane gibt, die sie idealisieren), sondern die breite Masse der Mitläufer.

Der Nordirlandkonflikt, der seine Anfänge in den 70er Jahren des vorherigen Jahrhunderts nahm, ist so ein Beispiel aus der 'realen Welt', bei der sich die Gehirnwindungen deutscher Leser schwer tun, Motive und Moral der agierenden Parteien - und aller, die sie unterstützen und nicht aufbegehren - nachzuvollziehen. 

In 'Milchmann' schafft es die irische Autorin Anna Burns (die in Belfast zu den Hochzeiten des genannten Konflikts aufwuchs) ansatzweise zu vermitteln, wie es zu einem solchen Verhalten kommen kann. Sie erzählt hier aus der Sicht einer zurückblickenden Frau, die berichtet, wie sie als 18jährige versuchte, ihr Leben neben dem alltäglichen Wahnsinn, losgelöst davon, zu leben und wie sie dann jedoch mitten hineingezogen wird in den Wahn aus Gewalt, Drohungen, Mord und Angst. 

Das Leben der Menschen wird durch die tägliche Gewalt geprägt und jedes Verhalten von der Gemeinschaft penibel unter die Lupe genommen. Mit Vorurteilen ist man schnell bei der Hand und eh' man sich versieht, zieht jedes Wort, das man sagen könnte, die Schlinge um den eigenen Hals nur enger zu. Die Protagonistin glaubt, mit Distanz könne sie sich der Situation um sie herum entziehen, doch lenkt sie damit zu viel Aufmerksamkeit auf sich, ohne es zu merken und wird so interessanter, als sie es sein will. Dass ihr das nicht klar ist und es auch einiges an Lesezeit braucht, ehe der Leser es nachvollziehen kann, ist ein Kniff, der mich an die Lektüre von 'The remains of the day' ('Was vom Tage übrig blieb') erinnert. Auch hier schreibt der Ich-Erzähler gefangen in der ihm anerzogenen - für den Leser frustrierenden - Distanz, die aber letztlich seinen Charakter perfekt trifft und das, was er zu vermitteln versucht. 

In 'Milchmann' geht es aber nicht nur um die Protagonistin und wie sie sich mit der Gesellschaft arrangiert, sondern immer auch um die Rolle der Frau in der damaligen Situation allgemein. Auch die war damals in Irland eher so, wie man es aus typischen Negativ-Beispielen kennt: Die Frau gehörte nach Hause, mit vielen Kindern, früh verheiratet, gläubig und gehorsam zu sein. Der Roman stellt das sehr plakativ anhand der Mutter der Protagonistin dar, führt aber auch Personen ein (Lehrerin, Aktivistinnen), die langsam den Beginn einer Wende andeuten. 'Milchmann' ist daher auch ein Emanzipationsroman, der andeutet - was jederzeit und überall galt und gelten wird - dass eine Erstarkung der Frau dafür sorgt, dass eine Gemeinschaft von innen heraus gesunden kann. 

Trotz der wichtigen, anspruchsvollen Themen konnte mich die Lektüre letztlich nicht komplett überzeugen. Zu anstrengend und verworren waren die gedanklichen Streifgänge der Erzählerin, die nicht nur frustrierend naiv war (das hätte ich ihr als glaubhafte Darstellung im Endeffekt eher positiv angerechnet), sondern die auch unfokussiert und langatmig berichtete. Zudem fiel es ihr schwer, sich auf einen roten Faden festzulegen. Ging es um ihren Konflikt mit dem sie stalkenden Milchmann, die Dynamiken in der Gesellschaft, das Verhältnis zu ihrer Mutter, die Rolle der Frau? Sicher irgendwie um alles, aber es hätte dem Roman gut getan, hier einen deutlichen Schwerpunkt zu haben. So war es von allem etwas, aber von keinem Thema genug.