Rezension

Erschreckend überzeugend

Phantasmen - Kai Meyer

Phantasmen
von Kai Meyer

Bewertet mit 4 Sternen

Das Cover des Buches zeigt Ausschnitte von vier unterschiedlichen Gesichtern, Alt und Jung, männlich und weiblich. Bei zweien kann man die abwesenden, in die Ferne blickenden, hellen Augen erkennen. Ich vermute, dass es die Gesichter einiger der Geister sein sollen, die im Buch beschrieben werden. Der abwesende Blick und der grünliche, fast fahle Hintergrund lassen die Menschen zumindest geisterhaft und auch ein bisschen schaurig wirken. Schön würde ich das Cover damit nicht nennen, aber es ist definitiv passend.

Seit dem Tag Null tauchen sie überall da auf, wo Menschen gestorben sind: Tausende von Geistern – Durchsichtige leuchtende Wesen in der Gestalt der gestorbenen Menschen. Um sich von ihren bei einem Flugzeugabsturz gestorbenen Eltern zu verabschieden, reisen Emma und Rain zu dem Ort, an dem diese gestorben sind. Ihre Eltern tauchen wie geplant auf, aber dann beginnen sie – wie alle anderen Geister weltweit – zu lächeln; ein böses Lächeln, das allen Menschen im unmittelbarem Umfeld das Leben raubt. Ein Effekt der anhält und immer mehr Menschen das Leben kostet. Aber als Rain und Emma dem nachgehen, begeben sich in noch weitaus größere Gefahr.

Im Anschluss an den nachdenklichen Prolog folgt die eigentliche Geschichte, Rains Geschichte. Auf einen kurzen Abriss der letzten sechsunddreißig Monate – der Zeit seit dem Absturz der Maschine ihrer Eltern und dem darauf folgenden Erscheinen der Geister – folgt ein noch kürzerer Abriss ihrer eigenen Lebensgeschichte. Dann beginnt die eigentliche Geschichte inmitten von Europas einziger Wüste. Durch diese Wüste brausen oder zockeln Rain und Emma mit einem alten Mini, um zur Absturzstelle zu kommen. Eine kurze Fahrt, die den Lesern schnell einen Eindruck der beiden unterschiedlichen Geschwister vermittelt. Und spätestens mit der Ankunft an der Absturzstelle hat Emma schon mein Herz erobert. Ihre Reaktionen auf die Umgebung sind meine absoluten Highlights im Buch. Aussagen wie “Wir könnten ihn [einen völlig Fremden] fragen, ob er noch zwei von diesen Hüten hat” stehen an der Tagesordnung, ebenso wie ihre Antworten auf (völlig berechtigte) kritische Nachfragen “Was soll er wohl mit drei davon anfangen?” – “Eben. [...] Deshalb kann er uns ja die anderen beiden geben.” Diese Art von “Gespräch” zieht sich durch das ganze Buch – und jedes davon ist immer wieder klasse. Außerdem machen sie jede im Buch passierende Handlung absolut nachvollziehbar (zumindest für Emma und Leute, die ähnlich denken oder denken wollen) – Rain hat, ebenso wie der Leser, jedenfalls keine andere Wahl als Emma zu folgen.

Die dritte Hauptperson, Tyler, hatte einen ähnlichen Plan wie Rain und Emma. Er wollte sich von seiner Freundin verabschieden. Er hat allerdings den berechtigten Verdacht, dass mit dem Absturz einiges nicht stimmt. Und nachdem er Emma und Rain vor einigen Söldnern, die genau das vertuschen wollen, rettet, hängen ihm die zwei an den Fersen. Von Söldnern verfolgt und lächelnden Geistern umgeben machen sich die drei daran aufzuklären, warum die geliebten Menschen sterben mussten – und was das ganze mit dem Erscheinen Geistern zu tun hat. Eine gefährliche Aufgabe, die sie durch Europa bis nach Amerika führt und dabei Stück für Stück die Hintergründe des Debakels enthüllt.

Das Verhalten der Gesellschaft bei diesen Phänomen ist simpel und ziemlich nachvollziehbar: Erst einmal wird das Erscheinen der Geister angezweifelt, dann arrangiert man sich und später werden sie so gut wie es eben geht ignoriert. Als es gefährlich wird, ist es dann zu spät und die Welt versinkt im Chaos – und damit haben wir den klassischen Ausgangspunkt einer Dystopie, auch wenn die Ursache (die Geister) ziemlich ungewöhnlich ist.

Die Protagonisten geraten eigentlich nur durch Zufall in das Ganze hinein – über die verstorbenen Eltern beziehungsweise die Freundin. Dass der Wunsch nach Wahrheit über der potentiellen Lebensgefahr rangiert, ist blinde Liebe, in Emmas Fall einfach typisch chaotisch und verrückt. Die Umstände, mit denen sie zu Recht kommen müssen, sind hart (selbst für den Leser): Die Geister sind unheimlich, der Tod, den sie mitbringen, noch viel schlimmer – damit wimmelt es in dem Buch nur von Toten und dazu kommen noch ein Haufen ziemlich zielstrebiger Irrer, die das Trio im Visier haben. Die Spannung kommt damit definitiv nicht zu kurz – auch wenn sich der Gruselfaktor zum Glück in Grenzen hält.

Die Verbindungen, die sich langsam herauskristallisieren sind interessant, ebenfalls spannend, aber vor allem schrecklich – ich hoffe, dass die Menschen von dieser Art Verhalten noch weit entfernt sind. Und dass wirklich niemand bereit ist, sehenden Auges den Weltuntergang in Kauf zu nehmen. In “Phantasmen” geht es letztendlich gut aus – oder zumindest nicht schlecht. Schrecklich genug sind die im Buch geschilderten Ereignisse trotzdem. Und die Katastrophe ist sicherlich nicht nur der Spannung wegen absolut knapp und mit herben Verlusten abgewendet worden. Zum Glück bleibt dem Leser auch diesmal ein Hoffnungsschimmer für die Protagonisten im Buch und für ihre Welt – und damit auch für unsere eigene.

Mich hat die Geschichte erschreckt, die Protagonisten – allen voran Emma – überzeugt und der Plot, trotz seiner eigentlichen Schlichtheit, von der ersten bis zur letzten Seite im Bann gehalten. Die geschilderten Ereignisse sind selbst für eine Dystopie heftig, auch wenn der Autor zum Glück nicht wirklich ins Detail geht. Das Buch ist damit insgesamt ziemlich gut.